Ein Geburtstag ist ein perfekter Zeitpunkt, nicht nur Dankbarkeit darüber zu empfinden, überhaupt auf der Welt zu sein, sondern sich ebenfalls vor Augen zu führen, dass das nicht immer so bleiben wird.

Kennen Sie Alf noch, den stark behaarten, frechen, geradlinigen und hoch sensiblen Bewohner des Planeten Melmac? Alf war für mich als Kind nicht nur eine komische, sondern gleichfalls eine verschreckende Gestalt. Etwas, das Katzen frisst und dabei so menschenähnlich ist, machte mir als Kind Angst.

Auch eine spezifische Info, die allen Melmac-Bewohnern zu Eigen war, macht mir heute noch Kopfzerbrechen… Und mein kölscher Schreibkollege Daniel Rettig hat mich mit seinem Artikel Das Beste kommt zum Schluss – Darum schmeckt der letzte Bissen so gut wieder an Alf und sein Zusatzwissen erinnert.

Wissen, wann es zu Ende isteige

Die Bewohner des Planeten Melmac kennen ihren Sterbetag.

Es kommt mir zum Teil skurril vor, an meinem Geburtstag an den Tod zu denken. Der Tod ist die endgültigste Zeiteinheit, die wir momentan kennen. Im wahrsten Sinne ist es eine Linie, nach deren Überschreiten wir nicht wissen, was kommt. Die „Deadline“ oder auch „Flatline“, wie sie im Englischen heißt; der gerade Strich auf dem EKG-Monitor, der den Herzstillstand anzeigt.

Auch im Job wird der eine oder andere Tod gestorben, zahlreiche Deadlines sind einzuhalten und nicht zu überschreiten. Obwohl wir dabei wüssten, was nach einem Übertreten passierte. Daniels Artikel, Alf und der Gebrauch des Wortes „Deadline“ im Arbeitskontext haben mich zu folgender Frage für diesen Artikel gebracht: Was wäre, wenn ich meinen Sterbetag wüsste (es aber niemandem sagte)?

Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer die gleiche: der Tod.
–Walter Benjamin

Carpe Diem mal anders

Eine sehr geschätzte Coaching-Kollegin gab mir den ein Zitat aus Rolf Dobellis Buch Die Kunst des klaren Denkens: 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen mit auf den Weg, der für sie die Frage gut zusammen fasste:

Carpe Diem ist eine gute Idee – einmal die Woche. Jeden Tag so zu leben, als sei es der letzte, ist Schwachsinn.

Denn würde man wirklich am letzten Tag noch seine Wohnung sauber machen und seine Rechnungen begleichen? Man wäre vermutlich als Folge bald im Gefängnis oder sterbenskrank.

Lebt man sein Leben nicht jeden Tag als wäre es der letzte aber dennoch in einer Art, bei der man darauf achtet, seine Zeit für sich und andere sinn-voll zu verbringen, entstehen meiner Meinung nach ein paar positive Folgen…

Mehr Bewusstheit im Leben

Jede Coaching-Übung, die die Visualisierung des hohen Alters nutzt, hat unter anderem den Zweck, die noch restliche Lebenszeit verkürzt zu wissen und dadurch stärker zu wertschätzen.

In der Schaukelstuhlübung sitzen Sie als Greis in Ihrem knarzenden Lieblingsstuhl auf der von der Abendsonne beglückten Veranda und blicken auf bestimmte Ereignisse Ihres Lebens zurück, um Sie aus dieser Perspektive noch einmal zu bewerten. War der Streit mit Ihrer Kollegin damals wirklich wichtig?

Auch „der Nachruf“ ist eine gute Hilfe, sich in das ungewohnte Feld des Todes hineinzudenken.

Klare Prioritäten

Das Wissen um einen Countdown führte dazu, eigene Aktivitäten und Prioritäten neu zu überdenken und zu ordnen.

Ist Fernsehen tatsächlich so relevant für den Normalbürger? Sollte ich meine Eltern mal wieder anrufen oder gar einen Wochenendbesuch planen? Sollte ich im selben Job bleiben oder für die letzten x Jahre endlich ausprobieren, wovon ich schon lange träume? Welche Werte sind mir wichtig und wie möchte ich mich nach ihnen richten? Und wenn nicht nach Werten, wonach anstelle dessen?

Jeder könnte seine Prioritäten sogar prozentual berechnen und wüsste, wie viel Raum und Zeit ein Mensch oder eine Aktivität in seinem Leben spielte oder spielen sollte. Danach überlegt man vielleicht zweimal, ob die Überstunden bei der Arbeit wirklich sein müssen oder doch besser dem romantischen Dinner zu zweit weichen könnten.

Größeres Genussempfinden

Zu wissen, dass mir spezielle Menschen oder Erfahrungen (wie z.B. Ess- oder Trinkgenüsse oder das Wunder der Sonnenauf- und untergänge) nach einem bestimmten Tag nicht mehr widerfahren würden, hätte einen positiven Effekt auf meine Genussfähigkeit. Während ich heute noch oft nach einem Urlaub sage „Das schaue ich mir beim nächsten Mal an“, könnte ich mit dem Wissen um meinen Todestag besser einschätzen, was ich noch machen sollte, bevor meine Zeit um ist.

Bessere Beziehungen zu Mitmenschen

Ich würde mich bei vielen Streitigkeiten ganz im Sinne der Schaukelstuhlübung fragen, ob sie ausgetragen werden sollten. Ich setzte sie in Relation zu meiner verbleibenden Lebenszeit und meinem gewollten Energielevel und entschied voraussichtlich häufig, dass der Streit nicht nötig wäre und ein besserer Weg existiert, Klärung zu schaffen.

In den meisten Fällen wollen Streithähne oder -hennen ohnehin ähnliche Dinge, die man noch dazu gleichermaßen erreichen kann. Oder streiten Sie üblicherweise mit Ihrem Partner oder einem Freund, weil Sie ihn loswerden wollen und nicht mehr mögen?

Rücksichtsvollerer Umgang

Menschen, die mir nahe sind, würde ich vielleicht auf mein Abschiednehmen vorbereiten. Der Grund, bald zu sterben, wäre ein triftiger, um mit diesen Menschen noch einmal Qualitätszeit zu verbringen. Eine Reise zu eben jenen noch nicht besuchten Orten, das Hereinschnuppern in vorher vermiedene Gebiete, der Austausch mit anderen Gedankengängen und unterschiedlicher Herkunft.

Leichtsinniger – oder doch leicht-sinniger?

Erst in 53,7 Jahren zu sterben hieße für mich nicht, dass ich deshalb leichtsinnig durch den Straßenverkehr ginge, denn nicht tot zu sein wäre nicht gleichzusetzen mit einem guten, gesunden Leben ohne Schmerzen und mit allen Möglichkeiten.

Trotzdem wäre ich leicht-sinniger: Zu wissen, dass ich bei diesem Bungeesprung, bei jenem Tiefseetauchgang oder auch durch diese üble Magenverstimmung in Nepal noch nicht sterben werde, ließe mich viele Dinge leichter ertragen und mutiger angehen. Es würde meine Sinne für Aktivitäten und Erfahrungen öffnen, für die ich vorher nicht zugänglich war. Ich hätte insgesamt ein höheres Interesse am Unbekannten, das das Leben für jeden bereithält.

Motivierter und lernfähiger

Zu wissen, dass meine Fehler gleichzeitig Helfer sind und mir den Rest meines Lebens erleichterten, ließe mich aufmerksamer zuschauen und ändern, was falsch gelaufen ist. Bei einigen Fehlern fiele es mir leichter zu sagen, es sei mir egal, in diesem Feld nicht fehlerfrei zu sein. Meine Akzeptanz über die Dinge in der Welt stiege ebenso.

Starke Neugier nach dem großen Plan

Natürlich könnte ich mich nicht der Neugier über den Fakt erwehren, warum wir eigentlich unseren Sterbetag kennen, welcher große Plan dahinter steckt, ob man seinen Weg ändern kann oder jeder Gedanke an eine Änderung bereits zum Plan gehört. Eine alte, philosophische Frage, die mich wahrscheinlich auch den Großteil meines Lebens begleiten würde.

Ein schöner Film zu genau diesem Thema ist The Adjustment Bureau , in dem Matt Damon „seinem“ großen Plan auf die Schliche kommt und erkennt, dass der Mensch mehr Einfluss nehmen kann, als das manchmal absehbar ist.

Die Angst vor dem Tod nähme durch Vorbereitung stetig ab

Je mehr ich mich gegen Ende meines Lebens gedanklich mit dem Tod beschäftigen würde, desto weniger Angst hätte ich vermutlich. Warum? (Man hat auch nicht weniger Angst vorm Zahnarzt, nur weil man weiß, dass der Termin bald kommt!) Ganz einfach: ich würde mich stetig darauf vorbereiten und dem Gefühl, nicht genug hinterlassen, erlebt oder erreicht zu haben, entgegenwirken.

Ich würde Streitereien schlichten oder gedanklich mit den Menschen abschließen („der Aufwand lohnt nicht“). Ich hätte meine „Bucketlist“ zu einem Großteil abgearbeitet und das, was ich vor dem Tod noch machen wollte, größtenteils gemacht. Oder hätte die Liste mit wachsender Weisheit durch das Setzen von Prioritäten gekürzt.

Fazit

Der Gedanke an den Tod ist immer heilsam, er tötet nicht, wie man annehmen möchte, er weckt.
–Jakob Boßhart

Am Ende ist der Gedanke an den Tod für mich ein hilfreiches Bild, das mir als Rahmen dient. Ein Kriterium, nach dem ich betrachten kann, was in meinem Leben passiert ist. Jedes Verhalten – egal ob heute oder morgen – kann unter dem ganzheitlichen Kontext betrachtet werden, was mir wirklich wichtig ist. Und mit dem wiederkehrenden Gedanken an das Ende kann ich sicherstellen, dass alles, was ich an einem bestimmten Tag tue, diesem großen Kriterium entspricht.

Und das lässt doch die Hoffnung übrig, auch am Sterbetag selbst noch das Gefühl zu haben, ich habe wirklich gelebt, Sinn für mich und andere geschaffen und nichts zu bereuen.

Können Sie dem Wissen über den eigenen Todeszeitpunkt etwas abgewinnen? Oder ist es für Sie gruselig, darüber nachzudenken?

 

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