Dieser geschätzte Gastbeitrag über Künstler ist von Alina Gause!

Im Frühjahr dieses Jahres zitierten zahlreiche Medien aus einer Studie mit dem Titel The Happy Artist. Die Autoren kommen darin unter anderem zu dem Schluss, dass Künstler trotz niedriger Einkommen und unsicherer Beschäftigungsverhältnisse insgesamt zufriedener sind als Nicht-Künstler. Bei Künstlern steigt mit der Anzahl der Arbeitsstunden die Zufriedenheit.

Wie kommt das?

Alina Gause ist Diplompsychologin und selbst seit über 25 Jahren als Sängerin und Schauspielerin tätig. Als Psychologin hat sie die Hintergründe der Lebens- und Arbeitsumstände von Künstlern analysiert. Hier beschreibt sie, warum der Berufsalltag von Künstlern glücklich macht.

Künstler machen uns etwas vor

Gründe, warum es sich lohnen könnte, es nachzumachen

Auf den ersten Blick erschließt sich nicht, warum ein Künstlerleben sich als Glücksmodell eignen sollte: es besteht zu einem großen Teil aus Phasen der Arbeitslosigkeit, ständig müssen Künstler Akquise betreiben an Orten, an denen niemand auf sie gewartet hat – Absagen sind Alltag und werden längst nicht mehr gezählt. Zudem werden sie, wenn sie ein Engagement gefunden haben, häufig nur im Erfolgsfall bezahlt und es wird ihnen ein Maß an zeitlicher und örtlicher Flexibilität abverlangt, das ein Familienleben erheblich erschwert.

Warum möchten Künstler trotzdem in den meisten Fällen nicht freiwillig in ein anderes Berufsfeld wechseln?

Um das verstehen zu können, muss man einmal tiefer in den Alltag eines Künstlers eintauchen.

5 Gründe, warum Künstler glückliche Arbeitnehmer sind

1. Weil sie bei der Arbeit alles um sich herum vergessen dürfen

Den von dem Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi als Flow-Erleben beschriebenen Zustand völligen Aufgehens in einer Tätigkeit kennen Künstler sehr gut. Mit dem Wort Flow wird ein Schaffens- oder Tätigkeitsrausch bezeichnet.

Wir kennen es aus der Kindheit oder von sportlichen Aktivitäten: in einem Spiel aufgehen, die Welt um sich herum vergessen, keinen Hunger und keine Kälte spüren und die Wahrnehmung der Zeit verändert sich. Flow-Erleben ist anders zu verstehen als fun oder kick, es geht darüber hinaus und entsteht dort, wo Aufmerksamkeit, Motivation und die Umgebung in einer Art produktiver Harmonie zusammentreffen. Ein Erlebnis, das so positiv in Erinnerung bleibt, dass man nicht mehr darauf verzichten möchte.

Die Voraussetzung zum Eintreten in den Flow-Zustand ist die Bereitschaft, auf die skeptische Distanz zum Erlebten zu verzichten und sich hinreißen zu lassen. Entscheidend ist die Kombination von vorangegangener Aktivität (Anstrengungen, Unternehmungen, Aufwendungen) und Passivität (sich dann überraschen zu lassen von Flow).

Künstler erfahren dieses Zusammenspiel von Können und Risiko während jeder Vorstellung oder Probe – maximale Anspannung und maximale Hingabe gleichzeitig. So bekommen sie immer wieder die Gelegenheit, in diesen angenehmen Zustand zu geraten, der für sie nicht durch eine andere berufliche Aktivität erreichbar zu sein scheint.

2. Weil Entfremdung von der Arbeit für sie ein Fremdwort ist

Vor allem darstellende Künstler sind als Personen untrennbar mit ihrer Arbeit verbunden. Die Frage „Wie sind Sie ein Künstler/eine Künstlerin geworden?“ ist für sie so aufschlussreich wie es die Frage: „Wie sind Sie ein Mensch geworden?“ wäre. Jede Tätigkeit und auch deren Bewertung hängt unmittelbar mit ihrer Person zusammen.

Das bedeutet zwar, dass negative Kritik sie besonders hart trifft, im Falle positiver Kritik aber gilt sie ebenfalls zu hundert Prozent der eigenen Person. Ihr Beitrag beinhaltet immer die Gesamtheit ihrer Person. Das zu wissen, gibt ihnen das Gefühl, als individuelle Persönlichkeit gebraucht zu werden und nicht ein kleines Rad in einer unüberschaubaren Maschinerie zu sein. Zudem wirken durch diese Nähe von beruflicher und privater Person die jeweiligen künstlerischen Tätigkeiten wie Seismographen für die aktuelle Befindlichkeit.

Ein Sänger wird am Klang seiner Stimme daran erinnert, ob er ausreichend geschlafen oder gegessen hat, ob er im Augenblick traurig, aufgeregt oder ausgeglichen ist und kann sein Verhalten konstruktiv darauf abstimmen.

3. Weil ihr Beruf Geist, Körper und Seele gleichermaßen trainiert

Alle Anteile der eigenen Persönlichkeit entwickeln und nutzen zu dürfen – und dies während der Arbeitszeit – ist eines der Privilegien künstlerischer Arbeit.

Vor allem darstellende Künstler sind dreifach gefordert: nur wenn sie körperlich fit sind, können sie täglich die kraftraubende Bühnentätigkeit ausüben. Geistige Fitness ergibt sich über die Erarbeitung von Choreographien, Partituren, der Beschäftigung mit Inhalten, Texten oder der Geschichte ihrer Kunst. Und seelische Fitness wird durch Singen, Tanzen, Gestalten, kreatives Schreiben oder ähnliche künstlerische Tätigkeiten gefördert – nicht umsonst sind diese Aktivitäten häufig in therapeutische Angebote integriert.

Es ist ein wohltuender Kreislauf: möchten darstellende Künstler leistungsfähig sein, bemühen sie sich um Fitness in allen drei Bereichen; üben sie ihren Beruf dann aus, verstärken sie dies zusätzlich.

4. Weil an jedem Arbeitstag etwas Neues auf sie wartet

Neurowissenschaftler haben es herausgefunden: die Areale des Gehirns, die aktiviert werden, wenn wir etwas Neues erlernen, sind verbunden mit den Gebieten, die für Glücksgefühle zuständig sind.

Ein Künstlerleben besteht zwangsläufig daraus, immer wieder Neues zu lernen. Schon aus Altersgründen müssen Künstler ihr Rollenfach ändern oder sich aber mit neuen Intendanten oder Regisseuren immer wieder auf andere, ihnen unbekannte Arbeitsweisen einlassen. Neue Stücke, neue Rollen, neue Choreographien, neue Kollegen, neue Orte – kaum ein Monat im Arbeitsleben eines Künstlers gleicht dem anderen.

Zudem suchen sie aktiv das Unbekannte auf – viele Schauspieler z.B. leiden darunter, wenn sie auf ein Genre festgelegt werden. Allein dadurch, dass sie immer wieder Neuem begegnen, das sie noch nicht kennen oder wissen, regen sie also das Gehirn an, Freude und Lust zu produzieren.

5. Weil ihr Berufsalltag aus realen Begegnungen besteht

Die Welt der Kunst ist eine Welt der Illusion – das ist richtig. Die Aktivitäten aber, die den Alltag eines Künstlers füllen, sind realer als es in anderen Berufszweigen der Fall ist. Die virtuelle Welt der Bildschirme z.B. – ein zentraler Bestandteil der meisten Arbeitsplätze heutzutage – ist weit entfernt von dem, womit Künstler sich den ganzen Tag beschäftigen. Ihr Leben besteht aus realen Partnern, denen sie mit realen Ängsten oder realer Begeisterung begegnen.

Was während der Probenzeiten oder einer Vorstellung passiert – jede Gänsehaut, jeder Schweißtropfen, jede Träne, jedes Lachen, jede erotische Spannung – ist real.

Selbstverständlich ist dies auch Teil der Berufsrealität anderer Arbeitnehmer, allerdings müssen viele ihre berufliche Tätigkeit dafür unterbrechen. Bei Künstlern hingegen ist dies ein substanzieller Bestandteil ihrer Arbeit.

Diese fünf Aspekte lassen erahnen, warum Künstler der erwähnten Studie nach die zufriedeneren Arbeitnehmer sind: weil viele Aspekte, die Menschen glücklich machen, in ihren Arbeitsalltag integriert sind.

Oder wie Matteo, ein Berliner Gitarrist, es formulierte:

Das kann Dich besser ernähren als Geld z.B.

Foto: Freeimages.com

Literatur

Csikszentmihalyi, M. (2007). Flow. Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart: Klett-Cotta.

Gause, A. (2011). Warum Künstler die glücklicheren Menschen sein könnten – der  Künstlerberuf aus psychologischer Perspektive. Norderstedt: Books On Demand.

Spitzer, M. (2002). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg und Berlin: Spektrum Akademischer Verlag 2002.

Steiner, L., & Schneider, L. (2011). The happy artist? An empirical application of the work-preference model. Journal of Cultural Economics.

 

Alina Gause

Alina Gause ist Diplompsychologin, Sängerin und Schauspielerin. Sie berät Künstler in ihrer Berliner Beratungsstelle a.way – the artists‘ way of life (www.artists-way.de) und ist Autorin der Bücher Warum Künstler die glücklicheren Menschen sein könnten und Kompass für Künstler: Ein persönlicher Wegbegleiter für Kreative.