Ich hatte als Kind in den 80er Jahren das große Glück, mit meiner Familie durch Europa reisen zu können. Noch nicht durch die großen Metropolen der Welt, aber zumindest in ferne Länder wie Spanien, Jugoslawien, Italien, Österreich, Dänemark und einige andere, die wundervolle Urlaubsorte inne hatten.
Für mich ist es immer noch ein unglaubliches Privileg, durch Fotos zu schauen, die mich an diese Reisen erinnern. Doch ist das Fotomaterial begrenzt, das meine damals nicht so foto-fleißigen Eltern zu Hause in ihren Alben aufbewahren.
Auch meine ersten eigenen und längeren Reisen mit meiner Frau, die uns nach Peru, Bolivien und Chile führten, sind nur von einigen Filmrollen begleitet worden. Und diese überließen wir damals nur unter großen Zweifeln, mit Misstrauen und Angst den dortigen Postämtern und schickten sie nach Hause.
Heute hingegen werden täglich zwei Milliarden Fotos auf Facebook hochgeladen. Insgesamt wurden 2017 nach Informationen von Statista weltweit insgesamt 1,2 Billionen Digitalfotos gemacht. Das sind rund 160 Bilder für jeden der rund 7,5 Milliarden Menschen, die auf unserer Erde leben.
Offensichtlich hat sich unser kollektives Verhältnis zur Fotografie in den letzten Jahren etwas verändert…
Fotografieren oder genießen?
Ich seufze fast jedes Mal. Immer dann, wenn ich vor einem atemberaubenden Naturspektakel stehe und neben mir ein Tourist (ich selbst bin ja nie einer…) die Kamera zückt. Er drückt ab. Und wieder. Nur, um gleich darauf mit seiner digitalen Trophäe weiter zu ziehen.
Ich schüttele kaum sichtbar den Kopf.
Gleichzeitig freue auch ich mich über die gemachten Selfies mit meiner eigenen Familie, die mich am besten an das erinnern, was erlebt und gesehen haben. Selbst, wenn ich den Hintergrund des Selfies gar nicht ausgiebig aufgesaugt habe.
Warum ist dieser Zwiespalt für die Positive Psychologie relevant? Ganz einfach: In letzter Zeit wurde die Aufmerksamkeit der Forschung auf die möglichen Vorteile des Fotografierens gerichtet. Im letzten Jahr haben sich Social Media und Online-Diskussionsgruppen über eine neue Studie gefreut, die Fotografie und das Heben unserer Stimmung verbindet (Chen, Mark, & Ali 2016).
Steigert Fotografie das Glück?
Die Forscher fanden heraus, dass das Aufnehmen von lächelnden Selfies und das Fotografieren von wahrscheinlich glücklich machenden Ereignissen in der Tat zu mehr Glück führten.
Leider wies die Studie einige Unzulänglichkeiten auf. Sie umfasste nur 41 Studenten einer einzigen Universität. 65% der Fotos wurden zu Hause gemacht. „Glück“ wurde nur durch ein einzelnes Element gemessen. Es forderte die Teilnehmer auf, ein digitales Dia entlang einer Linie zu schieben. Die Skala erstreckte sich von „negativem Affekt“ auf der einen Seite hin zu „positivem Affekt“ auf der anderen.
Trotz dieser offensichtlichen methodischen Einschränkungen gibt es andere Forschungsarbeiten, die auf das gleiche Fazit hindeuten.
Und zwar wurden die psychologischen Auswirkungen des Fotografierens in 9 Studien von Kristen Diehl und ihren Kollegen untersucht (Diehl, Zauberman, & Barasch 2016). Die Forscher
- nutzten ihrerseits kontrollierte Laboruntersuchungen und reale Feldversuche,
- verwendeten Selbstberichte und ausgefeilte Eye-Tracking-Technologie
- bewerteten alltägliche Erlebnisse wie das Fotografieren beim Mittagessen aber auch ungewöhnlichere Dinge wie das Fotografieren während einer Bustour
- beschäftigten 2.000 Teilnehmer aller Altersgruppen, die aus verschiedenen Universitäten stammten. Sie wurden von einem lokalen Lebensmittelladen und zudem online rekrutiert.
Und das haben die Wissenschaftler gefunden. Und zwar immer wieder: Fotografieren erhöht tatsächlich die Freude an einem Erlebnis.
Wie hilft Fotografie konkret beim Glücklichsein?
Es gab einige wichtige Vorbehalte, die auch Sie für Ihre Jagd nach dem Glück beachten sollten:
- Erhöhte Freude trat nur bei Bildern von positiven Ereignissen und Erfahrungen auf. Wenn Menschen negative Ereignisse fotografierten, fühlten sie sich beim Anschauen der Bilder schlechter.
- Das Fotografieren bot keinen zusätzlichen psychologischen Nutzen, wenn die Erfahrung bereits sehr einnehmend war.
- Das Fotografieren könnte den Genuss stören. Und zwar immer dann, wenn der Prozess des Fotografierens tatsächlich die Chance der Person beeinträchtigt, sich mit der Erfahrung auseinanderzusetzen.
Insbesondere der letzte Punkt verdient eine Erklärung.
Sie haben wahrscheinlich die Kritik von Leuten erlebt, die Fotos berühmter Sehenswürdigkeiten schossen. Oder sie möglicherweise sogar selber erzeugt…
Stellen Sie sich vor, Sie stehen im Weißen Haus, vor Big Ben oder einer dieser wunderbaren Sonnenuntergänge verzaubern Ihren Abend. Jemand in Ihrer Nähe klickt wie verrückt mit seiner Spiegelreflex drauf los. Sie schütteln den Kopf und wünschen sich, dass der Typ die Kamera für einen Moment abstellt.
Und wirklich mal sieht, was er da vor sich hat.
Sie werden sich freuen, dass in diesem Gefühl auch ein wenig Weisheit steckt. Für außergewöhnliche Erlebnisse ist es laut Wissenschaft tatsächlich besser, sie intensiv zu erleben.
Für alltägliche Erlebnisse ist eine Kamera jedoch vielleicht genau das richtige Werkzeug, um den Moment lebendig werden zu lassen.
Fotografie: Eine positiv psychologische Intervention?
Interessanterweise schreibt Dr. Jaime Kurtz seit 2008 über kamerabasierte positive Interventionen (z.B. im Arbeitsbuch Positively Happy). Kurtz interessiert schon lange, wie der Genuss, also das Vergrößern oder Verlängern eines positiven Moments, als Weg zu einem erfüllten Leben beitragen kann.
Ihre damalige Forschung scheint mit den neuesten Erkenntnissen des Diehl-Forschungsteams übereinzustimmen. In den Fotostudien fand sie heraus, dass das Fotografieren die Stimmung fördert, weil es das Engagement steigert. Also der intensiven Beschäftigung mit dem fotografierten Objekt zuträglich ist.
Das Fotografieren stellt eine tiefgreifende Veränderung des mentalen Zustands dar. Es richtet die Aufmerksamkeit auf die gleiche Weise aus, wie auch Achtsamkeitsmeditation den Fokus lenken kann. Wenn Ihnen beim Sitzen im Lotussitz also die Knie schmerzen und Sie sich beim Yoga zu sehr verbiegen müssten, nehmen Sie doch mal bewusst Ihr Smartphone in die Hand.
Kombiniert man die Erforschung von Achtsamkeit und die des Genießens, gibt es genügend Beweise. Es lohnt sich, mit der Fotografie zu experimentieren, wenn es um das Streben nach Glück geht.
Aber üben Sie sich im Priorisieren Ihrer Schnappschüsse. Denn sonst könnte es Sie um den Verstand bringen, dass Sie nix wirklich treffen, obwohl Sie schießen…
Literatur
Chen, Y., Mark, G., & Ali, S. (2016). Promoting positive affect through smartphone photography. Psychology of wellbeing, 6(1), 8.
Diehl, K., Zauberman, G., & Barasch, A. (2016). How taking photos increases enjoyment of experiences. Journal of personality and social psychology, 111(2), 119.
Vielen Dank für diese sehr vielschichtige und – seitige Darstellung und Analyse des Fotografieaspekts in Zusammenhang mit persönlicher Welterfahrung.
Als Schreibamateur habe ich die beflügelnde Sprudeln assoziativer Erfahrungen häufig erlebt, wenn ich in traditioneller oder heutiger Art historische oder aktuelle Fotos betrachte(te).
Wenn Proust aus seiner „Madeleine – Erfahrung“ ein zweitausend Seiten umfassendes Oeuvre der Weltliteratur zu schaffen vermochte, wieviel mehr ist dann wohl gar von visuell – emotional gestützten „realen“ Zeitaufnahmen gewinnbar ? Und wenn dann gar noch ein ( eigenes ) Kind mit auf dem Bild ist…
Subjektive Wahrnehmung, Entscheidung, Momentaufnahme mit Integration von Objekt und Subjekt in der Zeit und durch die Zeit hindurch, mit zeitspezifischen und interkulturell begründeten Deutungen und Neuerfahrungen abrufbar.
Danke für diesen wunderbaren Input zu positiver Psychologie, Fotografie und Glück. Ich bin Psychologin und Fotografin, arbeite derzeit an einem Konzept Fotografie in meine Coachings zu integrieren und empfinde den Glücksaspekt, den du hier beschreibst als wunderbare Inspiration für meine Arbeit.
Vielen Dank für deine Rückmeldung, Liebe Susan! Und es freut mich ungemein, dass ich bei dir einen Gedanken in Gang bringen konnte, der möglicherweise sogar deine zukünftige Arbeit spannender, gehaltvolle oder spaßiger werden lassen könnte! 🙂
Viel Erfolg und Laune beim weiteren Konzipieren!
Liebe Grüße, Micha