Selbstmitgefühl ist eine Fähigkeit, die oft übersehen wird, aber eine entscheidende Rolle für unser Wohlbefinden und unsere Lebensqualität spielt.

In einer Welt, in der Leistungsdruck und Selbstoptimierung dominieren, kann die Entwicklung des Selbstmitgefühls der Schlüssel zu mehr Zufriedenheit, innerer Stärke und Erfolg sein. In diesem Artikel werden wir die Bedeutung des Konzepts untersuchen, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse es gibt und welche Vorteile ein Kultivieren von Selbstmitgefühl inne haben.

Schnallen Sie sich an.

Warum ist Selbstmitgefühl so wichtig?

Das Thema ist in der Psychologie und Psychotherapie ein relativ neues Forschungsgebiet. Es wird als die Fähigkeit beschrieben, sich selbst mit Güte und Verständnis zu behandeln, – besonders in schwierigen oder stressigen Situationen. Selbstmitgefühl beinhaltet das Erkennen und Akzeptieren von eigenen Schwächen und Fehlern sowie das Annehmen von auftretenden (oder auch ausbleibenden) Emotionen.

Vereinfacht gesagt geht es darum, sich selbst so zu behandeln, wie man einen guten Freund behandeln würde. Und mal ganz ehrlich: Haben Sie sich bzw. Ihrem Inneren Kritiker schon mal genau zugehört? Häufig sprechen wir in unserem inneren Dialog so mit uns, wie wir es mit niemandem sonst auf der Welt tun würden…!

Das Konzept Selbstmitgefühl ist eng mit psychischem Wohlbefinden und Resilienz verbunden. Sind Sie gut darin, sich selbst Mitgefühl gegenüber zu zeigen, kann das dazu beitragen, dass Sie Depressionen, Angstzustände oder Stresssymptome reduzieren und demgegenüber Ihr Selbstvertrauen immer weiter stärken.

Forscher:innen wie Kristin Neff und Christopher Germer haben dazu beigetragen, das Konzept des Selbstmitgefühls zu entwickeln und in den letzten Jahren staark zu verbreiten und aus den Elfenbeintürmen der Forschung herauszuholen.

  • Eine Untersuchung von Neff und Germer (2013) untersuchte die Wirksamkeit eines kurzen Selbstmitgefühls-Trainings bei Patienten mit depressiven Symptomen. Die Interventionsgruppe erhielt ein kurzes Selbstmitgefühls-Training, das aus drei Sitzungen bestand, während die Teilnehmer:innen der Kontrollgruppe keine Intervention erhielten. Die Ergebnisse zeigten, dass das Training signifikante Verbesserungen in Bezug auf depressive Symptome, Selbstmitgefühl, Selbstkritik und Empathie bewirkte. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein kurzes Training bei Patienten mit depressiven Symptomen hilfreich sein kann, um depressive Symptome zu reduzieren und das Wohlbefinden zu verbessern.
  • Eine weitere Studie von Breines und Chen (2012) ergab, dass Selbstmitgefühl die Motivation zur Selbstverbesserung erhöht.
  • Kristin Neff hat zur besseren Einschätzung eine Selbstmitgefühls-Skala entwickelt, um die Selbstmitgefühlsebene von Menschen zu messen und zu untersuchen (ins Deutsche übertragen und validiert von Hupfeld & Ruffieux, 2011).
  • MacBeth und Gumley (2012) untersuchten den Zusammenhang zwischen Selbstmitgefühl und mit psychischen Erkrankungen bei Menschen. Die Ergebnisse zeigten, dass Selbstmitgefühl ein signifikanter Prädiktor für psychische Gesundheit war und dass eine höhere Selbstmitgefühlrate mit einer niedrigeren Rate von psychischen Störungen einherging.
  • Selbstmitgefühl ist insgesamt auch mit einer besseren psychischen Gesundheit verbunden. Menschen mit einem hohen Maß an Selbstmitgefühl haben weniger Symptome von Depression, Angst und Stress (Neff, 2003).
  • Selbstmitgefühl fördert zudem die eigene Resilienz, also die Fähigkeit, sich von Rückschlägen und Herausforderungen zu erholen. Menschen, die sich selbst mit Mitgefühl begegnen, können mit stressigen Situationen besser umgehen und sich schneller erholen (Terry & Leary, 2011).
  • Ein hohes Maß an Selbstmitgefühl geht weiterhin mit einem gesunden Selbstwertgefühl einher. Anstatt sich auf äußere Erfolge zu stützen, basiert das Selbstwertgefühl auf der Anerkennung der eigenen inneren Werte und Stärken. Hier sind übrigens 10 bewährte Tipps, um etwas für den Selbstwert zu tun!

Alle Untersuchungen deuten darauf hin, dass Selbstmitgefühl trainiert werden und dass die Teilnahme an eigens daz erstellten Programmen dazu beitragen kann, das eigene Selbstmitgefühl zu verbessern und psychisches Wohlbefinden zu fördern.

 

Woraus besteht Selbstmitgefühl?

Selbstmitgefühl beinhaltet drei zentrale Komponenten:

Selbstfreundlichkeit

Anstatt uns selbst zu kritisieren oder uns für Fehler zu verurteilen, sollten wir uns mit Freundlichkeit und Verständnis begegnen. Selbstfreundlichkeit beinhaltet auch die Fähigkeit, uns selbst zu vergeben und uns selbst zu trösten, wenn wir uns gestresst oder überwältigt fühlen.

Selbstfreundlichkeit bedeutet nicht, dass wir uns von unseren Verantwortlichkeiten oder Zielen entbinden, sondern dass wir uns selbst auf eine mitfühlendere und unterstützendere Weise motivieren.

Gemeinsame Menschlichkeit

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Selbstmitgefühls ist die gemeinsame Menschlichkeit. Wir alle sind unvollkommen und machen Fehler. Schwierigkeiten und Schwächen sind ein Teil der menschlichen Erfahrung, und es ist wichtig, uns daran zu erinnern, dass wir in unseren Schwierigkeiten nicht allein sind.

Wenn wir uns selbst akzeptieren und mitfühlender mit uns umgehen, können wir auch lernen, mitfühlender mit anderen umzugehen und bessere Beziehungen zu anderen aufzubauen.

Achtsamkeit

Achtsamkeit bezieht sich auf die Fähigkeit, unsere Gedanken und Gefühle im gegenwärtigen Moment wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten oder zu unterdrücken. Es geht darum, uns selbst zu erlauben, unsere Erfahrungen zu beobachten und anzunehmen, ohne uns von ihnen überwältigen zu lassen.

Durch Achtsamkeit können wir uns selbst besser kennenlernen und uns selbst gegenüber offener und mitfühlender werden. Achtsamkeit geht natürlich stark mit der Freundlichkeit gegenüber sich selbst und dem Gedanken der gemeinsamen Menschlichkeit einher.

 

Wie Sie Selbstmitgefühl entwickeln

Es gibt – alleine durch die verschiedenen Komponenten schon einige hilfreiche Mittel, um das Selbstmitgefühl zu stärken und sich damit etwas Gutes zu tun. Hier sind einige Beispiele, was Sie ganz aktiv tun können:

Achtsamkeitsübungen

Achtsamkeitsmeditation kann Ihnen z.B. helfen, Ihren Gedanken und Gefühlen mehr (neutrale) Aufmerksamkeit zu schenken und sie ohne Urteil wahrzunehmen. Hier sind einige sehr wertvolle Apps, die Sie dabei unterstützen können:

  1. Headspace – Diese App bietet eine Vielzahl von Meditationen, Schlafhilfen und Achtsamkeitsübungen. Sie ist ideal für Anfänger, da sie geführte Meditationen und Erklärungen enthält.
  2. Calm – Calm ist eine App, die sowohl geführte als auch unabhängige Meditationen anbietet. Sie beinhaltet auch eine Vielzahl von Beruhigungsmusik und Naturgeräuschen, um Ihnen beim Entspannen zu helfen.
  3. Insight Timer – Diese App enthält mehr als 25.000 geführte Meditationen von verschiedenen Lehrern und Praktikern aus der ganzen Welt. Sie ist ideal für diejenigen, die eine Vielzahl von Meditationsstilen ausprobieren möchten (und erstmal kein Geld für viel Inhalt ausgeben möchten ;-).
  4. Smiling Mind – Diese App wurde speziell für Kinder und Jugendliche entwickelt und bietet altersgerechte Achtsamkeitsübungen und Meditationen. Sie ist ideal für Eltern, die ihren Kindern helfen möchten, Achtsamkeit zu entwickeln.
  5. Aura – Diese App bietet personalisierte Meditations- und Achtsamkeitsübungen, die auf Ihre Stimmung und Bedürfnisse abgestimmt sind. Sie beinhaltet auch Schlafhilfen und inspirierende Zitate, um Ihre Motivation zu steigern.

Selbstfreundliche Sprache

Achten Sie auf Ihre innere Stimme und ersetzen Sie selbstkritische Gedanken durch freundliche und unterstützende Worte. Stellen Sie sich vor, wie Sie einem Freund in einer ähnlichen Situation begegnen würden.

Eine sehr gute Übung ist der „self-compassionate letter“, also der Brief vollere Selbstmitgefühl. Und zwar an sich selbst!

Michael Tomoff - Was Wäre Wenn - Positive Psychologie und Coaching - Selbstmitgefühl Brief an sich selbst

Selbstmitgefühl – Der Brief an sich selbst

Diese Übung lädt Sie dazu ein, einen Brief an sich selbst zu schreiben, in dem Sie Mitgefühl für einen Aspekt Ihrer Persönlichkeit zeigen, den Sie nicht mögen.

Dauer: 15 Minuten.

Identifizieren Sie zunächst etwas an sich, das Ihnen Scham, Unsicherheit oder Unzulänglichkeit bereitet. Schreiben Sie es auf und beschreiben Sie Ihre Gefühle. Seien Sie bitte ehrlich, denn niemand außer Ihnen wird das Geschriebene lesen.

Schreiben Sie anschließend einen Brief, in dem Sie Verständnis und Akzeptanz für den ungeliebten Teil Ihrer selbst ausdrücken. Dabei sollten Sie folgende Punkte beachten:

  1. Stellen Sie sich vor, jemand liebt und akzeptiert Sie bedingungslos. Was würde diese Person Ihnen über diesen Aspekt sagen? Erinnern Sie sich daran, dass niemand ohne Fehler ist und viele Menschen mit ähnlichen Problemen kämpfen.
  2. Überlegen Sie, wie Lebensereignisse, Ihre Familie oder Ihre Gene zu diesem negativen Aspekt beigetragen haben könnten.
  3. Fragen Sie sich mitfühlend, ob es Möglichkeiten gibt, diesen Aspekt zu verbessern oder besser damit umzugehen. Konzentrieren Sie sich auf positive Veränderungen, ohne sich zu verurteilen.
  4. Legen Sie den Brief nach dem Schreiben beiseite und lesen Sie ihn später erneut. Lesen Sie ihn besonders, wenn Sie sich wegen dieses Aspekts schlecht fühlen, um sich an mehr Selbstmitgefühl zu erinnern.

Warum es funktioniert: Selbstmitgefühl verringert Scham und Selbstkritik und fördert geistige Gesundheit und persönliches Wachstum. Schreiben hilft durch die tiefere Verarbeitungsebene, mit negativen Gefühlen umzugehen und die eigene Denkweise zu ändern. Mitfühlendes Schreiben ersetzt die selbstkritische Stimme bei Wiederholung durch eine tröstende und bestärkende.

Mit etwas Übung wird diese Stimme vertrauter und es wird Ihnen leichter fallen, sich selbst in schwierigen Momenten freundlich zu behandeln.

Selbstmitgefühlstagebuch

Schreiben Sie generell ganz gerne, ist auch das Führen eines Tagebuchs eine sehr gute Möglichkeit. In dem Sie jeden Tag mindestens eine Situation notieren, in der Sie sich selbst gegenüber mitfühlend waren, machen Sie es sich einfacher, Selbstmitgefühl in Ihrem Leben bewusster wahrzunehmen und zu pflegen.

Wenn Sie jetzt also nicht damit anfangen, sich selbst mit Freundlichkeit und Verständnis zu behandeln, wer wird es dann tun? Ihre Katze? Ihr Haustierfelsen? Warten Sie nicht darauf, dass andere Ihnen Mitgefühl zeigen – fangen Sie an, es sich selbst zu geben. Viel Spaß und Erfolg dabei!

 

Literatur

Breines, J. G. & Chen, S. (2012). Self-compassion increases self-improvement motivation. Personality and Social Psychology Bulletin, 38(9), 1133-1143.

Hupfeld, J., & Ruffieux, N. (2011). Validierung einer deutschen version der Self-Compassion Scale (SCS-D). Zeitschrift für klinische Psychologie und Psychotherapie.

Neff, K. D. (2003). The development and validation of a scale to measure self-compassion. Self and Identity, 2(3), 223-250.

Neff, K. D., & Germer, C. K. (2013). A pilot study and randomized controlled trial of the mindful self-compassion program. Journal of Clinical Psychology, 69(1), 28-44.

Terry, M. L., & Leary, M. R. (2011). Self-compassion, self-regulation, and health. Motivation and Emotion, 35(3), 211-224.