Dieser geschätzte Gastbeitrag ist von
Dr. Martin Bruder!
Es kann nerven.
„Weißt Du noch, damals…“ ist ein Satzanfang, der bei denen, die im Damals nicht dabei waren, alle Alarmglocken erschrillen lässt.
Wenn Gesprächspartner in eine gemeinsame Vergangenheit abdriften, kann die eigene Beteiligung am Gespräch für diesen Abend passé sein. Einmal abgesehen davon, dass man nach längerem Zuhören vielleicht eine halbherzige Entschuldigung abnicken darf. Nach dem Motto: „Mensch, jetzt haben wir so lange über vergangene Zeiten geredet – das war für Dich sicher langweilig.“
Ja, war es.
Aber warum?
Weil gemeinsames Schwelgen in Vergangenem nicht davon lebt, dass objektiv interessante Erlebnisse berichtet werden – das Leben der meisten hat nämlich keine Romanqualität.
Emotionen und die gute alte Zeit
Was die Vergangenheit zu einem solch fesselnden Gesprächsthema macht, sind die Emotionen, die dadurch wachgerufen werden. Im Zentrum steht dabei die Königin der erinnerungsinduzierten Emotionen: die Nostalgie. Und die beschränkt sich leider auf die Personen, die bei der – manchmal recht alltäglichen – Vergangenheit persönlich anwesend waren.
Nostalgie als Wort ist zwar relativ neu, die Emotion als solche hat aber eine lange Geschichte, die man zumindest zu den alten Griechen zurückverfolgen kann. Im Griechischen hat es auch seine etymologischen Wurzeln. Das Wort leitet sich aus nostos (Heimkehr) und algos (Schmerz oder Leiden) ab. Wörtlich übersetzt geht es also um den Schmerz, der durch das Verlangen nach Heimkehr verursacht wird.
Nostalgie und die Sirenen
Dieses Thema ist das zentrale Motiv eines der ersten Klassiker der Weltliteratur: Homers Odyssee. Und dieses Gedicht macht auch den später häufig beschriebenen „bitter-süßen“ Charakter der Emotion deutlich: Odysseus sehnt sich schmerzhaft nach seiner heimatlichen Insel Ithaka und einer Rückkehr zu seiner Familie.
Aber die Erinnerung motiviert ihn auch zu fast übermenschlichen Leistungen und ist für ihn eine schier unerschöpfliche Kraftquelle. Sie befähigt ihn dazu, den Unwillen der Götter zu ertragen und scheinbar unwiderstehlichen Versuchungen nicht zu verfallen, um nach 10 Jahren nach Ithaka zurückzukehren. Nicht nur die Sirenen lässt er auf seiner Fahrt links liegen, auch die schöne Nymphe Kalypso, die ihm Unsterblichkeit für eine amouröse Beziehung verspricht, verschmäht er (allerdings erst nachdem er sieben Jahre in ihren Armen auf der Insel Ogygia verbracht hatte).
Das Positive der Nostalgie
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Nostalgie als unabhängig von Heimweh konzeptualisiert und erforscht. Es wurde dabei verstärkt anerkannt, dass Nostalgie neben dem Erleben eines Verlusts (des Vergangenen) starke positive Elemente hat und wichtige psychologische Funktionen für den Einzelnen erfüllt.
Insbesondere die Sozialpsychologen Constantine Sedikides, Tim Wildschut und ihre Kollegen haben inzwischen vielfach prominent zu Nostalgie publiziert und Belege für ihre positiven Funktionen berichtet. Hier die vier prägnantesten positiven Seiten der Nostalgie:
1. Nostalgie bietet eine Quelle positiven Affekts. Menschen scheinen Nostalgie häufig dazu zu nutzen, negative Gefühle zu vertreiben. Beispielsweise kann nostalgieauslösende Musik zu einer positiveren Stimmung führen. Personen, die sich an ein nostalgisches (gegenüber einem nicht emotionsgeladenen) Ereignis erinnerten, waren hinterher fröhlicher gestimmt.
2. Nostalgie erhöht den Selbstwert derer, die sie erleben. Selbstwertdienliche Attribute der eigenen Person werden zugänglicher. Defensive Reaktionen auf eine Bedrohung des Selbstwert gehen zurück.
3. Nostalgie hilft dabei, mit dem Gedanken an den eigenen Tod umzugehen. Sie vermittelt das Gefühl von Kontinuität der eigenen Identität und nimmt dadurch wohl der Gewissheit der finalen eigenen Diskontinuität etwas von ihrer bedrohlichen Schärfe.
Wenn Personen daran erinnert wurden, dass ihr Leben endlich ist, berichteten sie danach verstärkt nostalgische Erinnerungen und konnten damit offenbar die aufkommende Angst vor dem eigenen Ableben zumindest abmildern.
4. Nostalgie hilft dabei, Gefühle der Einsamkeit zu überwinden und soziale Verbundenheit zu erleben. Sie begünstigt das Erleben sicherer Bindung an andere, eigener interpersonaler Kompetenz und die Zuversicht auf soziale Unterstützung vertrauen zu können. Diese Funktion erfüllt Nostalgie möglicherweise deshalb so effektiv, weil nostalgieauslösende Erinnerungen in der Regel persönlich bedeutsame positive soziale Erfahrungen beinhalten.
Wenn das nächste Mal Gesprächspartner einen Ausflug in ihre gemeinsame Vergangenheit unternehmen, nutzen Sie die Zeit also am besten für ein paar nostalgische Erinnerungen aus ihrem eigenen Leben. Sie fühlen sich glücklicher, selbstbewusster, lebensbejahender und sozial eingebundener. Die Entschuldigung für den vorübergehenden Gesprächsausschluss abzunicken, sollte Ihnen dann deutlich leichter fallen.
Literatur
Hepper, E. G., Ritchie, T. D., Sedikides, C., & Wildschut, T. (2012). Odysseys end: Lay conceptions of nostalgia reflect its original Homeric meaning. Emotion, 12, 102-119.
Routledge, C., Arndt, J., Wildschut, T., Sedikides, C., Hart, C. M., Juhl, J., Vingerhoets, A. J. J. M., & Scholtz, W. (2011). The past makes the present meaningful: Nostalgia as an existential resource. Journal of Personality and Social Psychology, 101, 638-652.
Sedikides, C., Wildschut, T., Arndt, J., & Routledge, C. (2008). Nostalgia: Past, present, and future. Current Directions in Psychological Science, 17, 304-307.
Wildschut, T., Sedikides, C., Arndt, J., & Routledge, C. (2006). Nostalgia: Content, triggers, functions. Journal of Personality and Social Psychology, 91, 975-993.
Dr. Martin Bruder hat in Cambridge über nonverbale Emotionskommunikation promoviert. Er arbeitet derzeit beim Deutsches Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit.
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