Verletzlichkeit in der Führung ist nicht das Ende deiner Autorität – sondern oft ihr Anfang.
„Zeig gleich zu Beginn, wer das Sagen hat.
Mach ihnen klar, dass du dir nichts gefallen lässt.“
Solche Sätze höre ich immer wieder.
Manche sagen sie mit Überzeugung.
Andere mit einem mulmigen Gefühl.
Ein Coachee von mir hatte gerade eine neue Führungsposition übernommen. Sein Vorgesetzter gab ihm genau diesen Ratschlag:
ein Exempel statuieren.
Härte zeigen.
Sich Respekt verschaffen – notfalls durch Angst.
Und er fragte mich:
„Was, wenn ich das nicht kann? Nicht will?
Was, wenn ich es nicht mache und dadurch all die enttäusche, die an mich glauben?“
Ich sagte ihm:
„Oder du zeigst ihnen, dass es auch anders geht.
Dass Erfolg viele Gesichter haben kann.
Auch deins.“
Dieser Artikel handelt genau davon. Von der Angst, man selbst zu sein – in einer Rolle, die auf Härte programmiert ist. Von Stefan, einer klassischen Karriere. Und von der Frage, wie man Verletzlichkeit zeigt, ohne sich zu verlieren.
Stefans Geschichte: Wenn Erfolg im Unternehmen ein altes Kostüm wird
Stefan ist ehrgeizig. Diszipliniert. Einer, der nie lange zögert. Seit seinem Dualen Studium 2004 war er auf dem Weg nach oben – Führungslaufbahn, Talentprogramm, internationales Logistikunternehmen. Er wusste: Wer analytisch stark ist, durchgreift, Leistung fordert, kommt voran. Und genau das tat er.
Doch mit den Jahren veränderte sich das Spiel. Sein Team reagierte nicht mehr so schnell wie früher. Kund:innen wanderten ab. Drei seiner besten Leute kündigten – trotz Gehaltserhöhungen. Es wurde immer schwieriger, „die klügste Person im Raum“ zu sein.
Dann kam ein Führungstraining. Ein Kurs, der etwas in ihm aufriss. Dort sprach man von psychologischer Sicherheit. Von Feedback. Von einer Kultur, in der Fehler sein dürfen – ja müssen, damit Innovation entstehen kann. Stefan verstand: Wenn ich will, dass mein Team sich zeigt, muss ich anfangen.
Der innere Leadership Konflikt: Stark wirken oder offen sein?
Als Stefan am Ende des Kurses seine Tasche packte, war er aufgewühlt. Er wusste, was zu tun wäre – aber nicht, wie. Denn etwas zu verstehen, ist das eine. Es zu leben, das andere.
Wie zeigt man Verletzlichkeit, ohne schwach zu wirken? Wie öffnet man sich, ohne an Autorität zu verlieren?
Was ihn bewegte, bewegt viele Führungskräfte. Wir alle tragen alte Bilder in uns: vom Durchsetzungsstarken, vom Kontrollierenden, vom „Führenden“. Wer etwas anderes zeigt – Unsicherheit, Zweifel, Lernbereitschaft – riskiert gefühlt sofort das Etikett: nicht geeignet.
Dabei zeigt die Forschung längst: Führung, die psychologische Sicherheit schafft, ist langfristig erfolgreicher. Verletzlichkeit ist kein Risiko. Sie ist eine Ressource.
🔥 5 Impulse für die Macht der Verletzlichkeit für deinen Führungsstil
1. Lernen sichtbar machen
Wir alle wissen theoretisch, dass Fehler dazugehören.
Aber wenn’s konkret wird – neue Software, komplexe Präsentation, ungewohnte Gesprächsführung – tun viele so, als hätten sie alles im Griff.
Das lähmt.
In einem Projektteam bei einer NGO etwa sprach die Teamleitung nach einem gescheiterten Launch offen aus:
„Ich dachte, ich hätte genug Stakeholder abgeholt. Hatte ich nicht. Das fällt uns jetzt auf die Füße – und ich übernehme das.“
Diese Haltung war keine Selbstgeißelung, sondern der Startpunkt für ein gemeinsames Lernsystem.
Nicht: Wer hat versagt? Wer sind die Schuldigen?
Sondern: Was hat uns gefehlt – und was machen wir beim nächsten Mal anders?
Tipp: Schaff regelmäßige Formate, in denen nicht nur Erfolge, sondern auch Lerneffekte gefeiert werden. Das kann ein „Learning of the Month“ in der Abteilungsrunde sein – oder ein kurzer Slack-Post mit dem Titel „#WasIchDieseWocheGelerntHabe“.
2. Schlüsselmomente teilen
Wenn Menschen dich nur als die souveräne, kontrollierte Führungskraft kennen, entsteht Distanz.
Wer du bist, bleibt unsichtbar.
In einem mittelständischen IT-Unternehmen begann ein Head of Development, seine Jour-Fixes mit kleinen, persönlichen Geschichten zu starten.
Einmal erzählte er, wie er in einem früheren Job aus Angst vor Ablehnung nie eine Gehaltserhöhung eingefordert hatte – und Jahre später merkte, wie tief ihn das geprägt hatte.
Es wurde still im Raum.
Diese kleinen Offenbarungen haben große Wirkung.
Sie zeigen: Du bist nicht unfehlbar – du bist lernend.
Und das dürfen andere dann auch sein.
Tipp: Überlege dir, welche 1–2 Wendepunkte in deiner Laufbahn du bereit bist zu teilen. Momente, in denen du gezweifelt hast – und etwas Wichtiges verstanden hast.
3. Als Führungskraft Feedback entdramatisieren
In vielen Organisationen ist Feedback ritualisiert – einmal im Jahr, mit Bewertungsbögen, angespanntem Schweigen.
Das Problem: Es wird zu groß gemacht. Zu selten. Zu verkopft.
In einem Scale-up aus dem Bildungsbereich führte eine junge HR-Leiterin 5-Minuten-Check-ins ein. Immer donnerstags, immer gleich:
„Was lief gut diese Woche?“
„Wo hättest du dir von mir mehr Unterstützung gewünscht?“
„Was willst du ausprobieren?“
Die Gespräche dauerten selten länger als ein Espresso.
Aber sie öffneten Räume.
Und sie nahmen dem Thema Feedback die Schwere.
Tipp: Fang klein an. Ein ehrliches „Was hättest du dir anders gewünscht?“ nach einem Meeting reicht. Wichtig ist, dass du nicht verteidigst, sondern einfach hörst. Und anerkennst.
4. Vertrauen und zuhören, ohne sofort zu reagieren
Wir denken oft, wir müssen sofort etwas sagen. Argumentieren. Einordnen.
Dabei ist echtes Zuhören oft das Mutigste.
Ein CEO, den ich begleiten durfte, saß im All-Hands-Meeting, als ein Mitarbeiter offen kritisierte, dass Entscheidungen oft zu spät und intransparent kommuniziert würden.
Man sah dem CEO an, dass es ihn traf.
Aber er blieb still. Atmete.
Dann sagte er:
„Das sitzt. Und ich nehme das mit – nicht als Vorwurf, sondern als Weckruf.“
Diese Reaktion hat mehr verändert als zehn Change-Memos.
Tipp: Wenn dich etwas triggert – zähl innerlich bis 5. Frag dich: Muss ich das jetzt einordnen? Oder darf es einfach mal stehen bleiben?
5. Vorbild statt Predigt
Viele Führungskräfte erzählen ihren Teams, wie wichtig Fehlerkultur und Offenheit sind.
Aber wenn sie selbst mal Feedback bekommen, wird es schnell defensiv oder elegant ignoriert.
Ein Beispiel aus einem globalen Pharmaunternehmen:
Die Bereichsleiterin begann jedes Teammeeting mit einem „Ich habe mich geirrt“-Moment.
Mal war es eine zu ehrgeizige Timeline, mal eine unbedachte Formulierung, mal eine verpasste Nachfrage im Bewerbungsgespräch.
Sie machte es nicht dramatisch.
Aber sichtbar.
Nach drei Monaten begannen auch andere, ihre „Misses“ zu teilen.
Nicht weil sie mussten.
Sondern weil sie durften.
Tipp: Du musst nicht perfekt sein. Du musst nur echt sein. Und den Raum halten, wenn andere es auch werden.
💡 5 Deep-Dive-Impulse aus Psychologie & Wissenschaft
💡 Warum wir lieber klug beraten als selbst fühlen
Wir flüchten gern in Analyse, Strategie und kluge Sprache – gerade dann, wenn es emotional wird.
Das schützt uns davor, selbst fühlen zu müssen.
Brené Brown nennt das „emotionales Ausweichen“: Wir kontrollieren lieber andere oder die Situation, als uns mit unserer eigenen Unsicherheit zu konfrontieren.
Doch genau da beginnt Verbindung: wenn wir aufhören, uns zu verstecken – auch hinter Expertise.
💡 Warum wir bei uns selbst blinde Flecken haben
Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt, dass Menschen mit wenig Wissen ihre Fähigkeiten oft überschätzen, während kompetente Personen eher zweifeln.
In Führung bedeutet das: Die lautesten Stimmen sind nicht immer die kompetentesten – und die reflektierten oft die stillsten.
Verletzlichkeit hilft, diese Verzerrung zu durchbrechen: Wer sich als Lernende:r zeigt, lädt andere ein, ehrlich zu spiegeln – und selbst mutiger zu werden.
💡 Verletzlichkeit ≠ Schwäche
Amy Edmondsons Studien zur psychologischen Sicherheit zeigen klar: Verletzlichkeit schafft Vertrauen – wenn sie eingebettet ist in eine Kultur von Verantwortung und Offenheit.
Das bedeutet nicht, jede Unsicherheit sofort zu teilen und die Teammitglieder zu verunsichern.
Sondern bewusst zu zeigen: Ich habe nicht alle Antworten. Aber ich bin bereit, zuzuhören, zu lernen und gemeinsam besser zu werden.
Authentisch.
Verletzlich.
Mit einem „Ja“ zu positiver Feedbackkultur.
💡 Psychologische Sicherheit ist wirtschaftlich relevant
Googles Forschungsprojekt “Project Aristotle” untersuchte über zwei Jahre, was Hochleistungsteams ausmacht.
Das Ergebnis war klar: Am wichtigsten ist das Gefühl, sich ohne Angst äußern zu können.
Wichtiger als Intelligenz, Ausbildung oder Struktur.
Verletzlichkeit ist kein Wohlfühlthema – sie ist ein Business Case, eine wirtschaftliche Superpower!
💡 Wie Sprache unser Selbstbild formt
Carol Dwecks „Growth Mindset“ ist mehr als ein Bildungskonzept.
Es zeigt: Menschen, die lernen dürfen, ihre Fehler als Entwicklungsschritt zu sehen, entwickeln langfristig mehr Resilienz und Innovationskraft.
Und das beginnt bei Führungskräften, die selbst so sprechen – mit sich und mit anderen.
Wie geht’s weiter?
Bist du bereit, dich und andere aufzubauen, in dem du übst, Verletzlichkeit zu zeigen?
Hast du Bock, andere in ihrer Authentizität zu fördern?
Willst du moderne Führung praktizieren, dich verletzlich zeigen und vorleben, Fehler zuzugeben?
Manchmal bedeutet die eigene Verletzlichkeit auch, Grenzen setzen ernster zu nehmen. Verletzliches Führen ist gerade in analytisch geprägten Unternehmen essenziell und hat nichts mit „Schwächen zeigen“ zu tun.
Ich wünsche dir viel Erfolg und vor allem Spaß, Verletzlichkeit als Stärke in deinem Arbeitsumfeld zu praktizieren (oder auch im Privaten offen umzugehen mit dem, was dir noch Angst macht).
Literatur
Brown, B. (2012). Daring Greatly. Gotham Books.
Dweck, C. S. (2006). Mindset: The New Psychology of Success. Random House.
Edmondson, A. C. (1999). Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams. Administrative Science Quarterly, 44(2), 350–383.
Google re:Work. (n.d.). Project Aristotle. https://rework.withgoogle.com/print/guides/5721312655835136/
Kruger, J., & Dunning, D. (1999). Unskilled and unaware of it: How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. Journal of Personality and Social Psychology, 77(6), 1121–1134.