Dieser Artikel beschreibt das Phänomen „Verletzlichkeit“ und zeigt auf, warum es uns so schwer fällt, sie zu zeigen. Außerdem erfahren Sie, welche Möglichkeiten es gibt, mehr Verletzlichkeit zu zeigen.

Dieser geschätzte Gastartikel ist von „Max“.

Auf der Social Media Plattform Instagram steht das amerikanische It-Girl Kim Kardashian mit heutigem Stand auf Platz sechs der meistgefolgten Celebrities: Unglaubliche 214 Millionen Abonnenten verfolgen ihre privaten und nicht so privaten Fotos, die fast täglich auf ihrem Kanal hochgeladen werden.

Auffallend: Bei der Bildauswahl wird nur wenig dem Zufall überlassen – sie und ihre Familie wirken stets glücklich, makellos, nahezu perfekt.

Heutzutage liegt der Fokus häufig darauf, nach außen wenig Verletzlichkeit zu zeigen.

Doch damit steht Kim Kardashian nicht alleine da. Die Selbstinszenierung als perfektes Wesen scheint eines der Phänomene unserer Zeit zu sein – nicht zuletzt auch der Sozialen Medien wegen. Doch handelt es sich hier wirklich nur um Zeitgeist? Ich denke nicht.

Wenn wir zum Beispiel auf die zahlreichen Gemälde von König*innen und anderen wichtigen Persönlichkeiten über die verschiedensten Epochen hinweg zurückblicken, wird klar: Für den Menschen war es schon immer wichtig, nach außen hin stark und schön zu wirken.

Welche Rolle spielt die eigene Verletzlichkeit?

Warum ist es für uns so wichtig, eigene Makel sowie die eigene Verletzlichkeit zu verstecken? Warum könnte uns das Zeigen von Verletzlichkeit sogar helfen? Und wie können wir vielleicht ein bisschen mehr Verletzlichkeit zulassen?

Wer sich verletzlich zeigt, macht sich angreifbar.

Die eigene Verletzlichkeit ist ein brisantes Thema. Und wird daher vor anderen so oft es geht vermieden. Der Grund dafür? Wenn wir zu unserer Verletzlichkeit stehen, macht uns genau das angreifbar.

Erzähle ich zum Beispiel einem*r Arbeitskolleg*in, dass sich mein*e Partner*in gerade von mir getrennt hat und ich daher nah am Wasser gebaut bin, dann offenbare ich meine Verletzlichkeit. Gleichzeitig begebe ich mich in Gefahr, denn mein*e Arbeitskolleg*in könnte anderen davon erzählen, was in mir Scham oder auch Schuld auslösen könnte.

Mein Teilen könnte die Konsequenz haben, dass mir wichtige Projekte vorenthalten werden, weil man mich schonen will oder ich für eine Führungsposition nicht in Betracht komme, da man mir die Stärke dazu derzeit nicht zutraut.

Ein*e Kolleg*in könnte mir beim Mittagessen in der Kantine vorwerfen, es sei kein Wunder, dass es in meiner Abteilung so viele Kündigungen gibt – nicht mal mehr mein*e Partner*in habe es mit mir ausgehalten. Ein Horrorszenario, das schon mehr als einmal wahr geworden ist.

Die Angst vor Verletzung sitzt meist tief.

Das Gleiche gilt für Freundschaften, Partnerschaften und jegliche andere Art von Beziehungen: Wer seine Verletzlichkeit offenbart, geht mindestens  zwei Risiken ein: Zum einen das Risiko, verletzt zu werden. Die Angst davor sitzt bei den meisten von uns tief.

Fast jeder kann sich daran erinnern, von einem Freund, einer Freundin, einer Bekannten oder einem Bekannten verletzt worden zu sein – häufig noch in der Kindheit oder Jugend.

Das Problem: Von den 1000 guten Erfahrungen, die wir in unserem Leben mit anderen Menschen gemacht haben, sind diese  schlechten Erfahrungen oft sehr präsent in unser Gedächtnis eingebrannt.

Für erlebte Verletzungen haben wir ein Elefantengedächtnis.

Häufig erinnern wir uns noch Jahre danach an den Schmerz, den diese Verletzung hervorgerufen hat und versuchen um jeden Preis, so etwas zu verhindern. Das beeinflusst uns unbewusst jeden Tag aufs Neue in unserem Verhalten.

Das zweite Risiko bei der Offenbarung unserer Verletzlichkeit ist die Gefahr, verlassen zu werden.

Eine Gefahr, die weit schwerer wiegt als die der Verletzung. Wir sind  soziale Wesen – wir brauchen Kontakte, um ein glückliches Leben führen zu können.

Die Angst davor, andere könnten erkennen, dass wir eben nicht so perfekt sind, wie wir gerne nach außen wirken ist häufig groß. Die Angst, daraufhin verlassen zu werden, ist bei manchen noch größer.

Paradox: Die eigene Verletzlichkeit zu offenbaren, kann uns dabei helfen, weniger verletzlich zu sein.

Warum sollten wir uns also bei all diesen negativen Aspekten und Schmerzen dazu, uns trotzdem anderen Menschen mit unserer Verletzlichkeit zu zeigen?

Es sind die positiven Punkte, die auf der anderen Seite stehen: Geht es uns schlecht, dann hilft es uns, mit anderen Menschen über unsere Gefühle zu reden.

Denn das Gespräch über eigene Probleme ermöglicht es uns, Gefühle in uns zu ordnen – und Geschehnisse dadurch besser zu verarbeiten. Offenbare ich mich in meiner Verletzlichkeit einer anderen Person, erfahre ich durch deren Mitgefühl zusätzlich Trost und fühle mich gesehen und empathisch behandelt.

Verletzlichkeit schafft Nähe.

Doch damit nicht genug. Wer zum Beispiel mit seine*r Partner*in über die eigene Verletzlichkeit spricht, schafft Nähe – wir zeigen uns, wie wir wirklich sind. Und das schafft nicht nur Vertrauen! Es ermöglicht uns außerdem, unser Gegenüber besser zu verstehen und mögliche Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen.

Erzählt einem der oder die Partner*in zum Beispiel von der angespannten Beziehung zu den eigenen Eltern, können wir es besser einordnen, wenn die Nerven Tage vor dem Besuch bei den Eltern blank liegen.

Das hilft uns, kleine Provokationen des*r Partner*in nicht auf uns selbst zu beziehen, sondern mit dem anstehenden Besuch zu verbinden und ruhig(er) zu bleiben.

Ähnlich verhält es sich mit Reizthemen, sogenannten Triggern: Wenn Partner*innen die Trigger des jeweils anderen kennen und respektieren, kann das eine Beziehung enorm stärken.

Die Gründe für die eigene Verletzlichkeit brauchen manchmal Zeit, um nach oben geholt zu werden.

Bei all den positiven Aspekte dürfen wir nicht vergessen: Über die eigene Verletzlichkeit zu reden, benötigt Kraft und Mut.

Häufig sind es traumatische Ereignisse, mit denen wir uns verletzlich zeigen. Die eigene Auseinandersetzung damit fordert Mut. Verschließt sich das Gegenüber oder fällt es ihm oder ihr schwer, sich zu öffnen, hilft Geduld – nicht Druck. Denn jeder hat sein eigenes Tempo.

Wie Sie Verletzlichkeit üben können.

Sie können Verletzlichkeit üben. Und zwar in vier kleinen Schritten:

1. Überlegen Sie sich, welcher Person Sie vertrauen

Das sollte eine Person sein, die Sie im Idealfall schon über ein paar Jahre kennen, um ihre Vertrauenswürdigkeit einzuschätzen. Eine Person, die Sie möglichst noch nicht persönlich tief verletzt hat. Und die bisher keine Details, die Sie ihr im Vertrauen erzählt haben, weitergegeben hat. Kurzum: Eine Person, bei der Sie sich wohlfühlen.

Aber Achtung: Diese Person sollte nach Möglichkeit kein*e Arbeitskolleg*in sein. Denn bei der Arbeit geht es um etwas Fundamentales: Ihren Lebensunterhalt. Wenn Sie hier der falschen Person vertrauen, kann schnell eine Lawine an negativen Ereignissen losgetreten werden.

2. Nehmen Sie sich ein bisschen Zeit zum Reflektieren

Erstellen Sie eine Liste mit Unsicherheiten, die Sie bei sich selbst beobachten. Das können Dinge sein, bei denen Sie sich schämen, bei denen Offenheit Ihnen schwerfällt oder auch gerne Glaubenssätze, die Sie möglicherweise schon als Kind beigebracht bekommen haben und die heute nicht mehr hilfreich sind.

Das können Situationen sein, die Sie zu Hause an sich beobachten (Partner:innen sind häufig großartige Ausgangspunkte für das Auslösen eigener Unsicherheiten ;-), im Job, bei Freunden, an der Kasse im Supermarkt. Die Liste könnte lang werden, denn auch wenn wir im Laufe des Lebens an vielen Dingen arbeiten und uns entwickeln, sind Unsicherheiten doch Teil unseres Lebens.

3. Überlegen Sie bei jeder dieser Unsicherheiten, wie sehr diese Sie verletzlich macht

Ordnen Sie jeder Unsicherheit eine Punktezahl zu – von einem Punkt bei „Wenn jemand über diese Unsicherheit Bescheid weiß, dann verletzt mich das ein kleines Bisschen“ bis zu 10 Punkten bei „Wenn jemand über diese Unsicherheit Bescheid wüsste, wäre ich in meiner Verletzlichkeit vollkommen ausgeliefert“.

Ein Beispiel für eine „Ein-Punkt-Wertung“ könnte sein: „Es ist mir unangenehm, dass jemand weiß, dass ich Angst vor Meerschweinchen habe“. Ein Beispiel für eine „10-Punkte-Wertung“ könnte sein: „Ich möchte nicht, dass jemand weiß, dass ich mich für einen schlechten Vater bzw. eine schlechte Mutter halte.“

4. Wählen Sie die Unsicherheit mit der geringsten Verletzlichkeit aus…

…und offenbaren Sie diese Verletzlichkeit der Person, die Sie unter Punkt 1 ausgewählt haben.

Der Vorteil dabei: Auf diese Weise können Sie Schritt für Schritt üben, anderen Menschen die eigene Verletzlichkeit zu offenbaren. So können Sie ausprobieren, welche Geschwindigkeit, welche Intensität und welche Situationen für Sie dafür am besten passen.

Das Ziel hierbei ist natürlich nicht, allen Personen in Ihrem Umfeld die gesamte Liste Ihrer Verletzlichkeiten zu offenbaren. Sondern sich Schritt für Schritt daran heranzutasten, wie es ist, von der eigenen Verletzlichkeit zu erzählen. Überlegen Sie also genau, wem Sie wie viel erzählen möchten.

Hören Sie auf Ihre Intuition

Aber Vorsicht: Bei dieser Übung sollten Sie ganz genau auf Ihre Intuition achten und nichts überstürzen. Und wenn Ihnen gerade keine Person einfällt, mit der Sie diese Übung durchführen können – dann warten Sie lieber noch ein bisschen.

Oder aber Sie nutzen einen Trick: Suchen Sie sich im Internet einen Chatroom oder ein Forum mit Personen, die Ihnen völlig unbekannt sind. Bauen Sie dort langsam und über einen längeren Zeitraum Beziehungen auf. Sobald Sie sich wohl genug fühlen, können Sie diese Übung mit einer Person durchführen, die Sie in den vorhergehenden Wochen näher kennenlernen konnten. Der Vorteil: Sie gehen kein Risiko ein – solange Sie nicht zu viele Details von Ihnen offenbaren.

Die eigene Verletzlichkeit zu zeigen ist eine Lebensaufgabe. Sie kann Ihrem Leben mehr Spaß, Nähe und Glück bringen. Versuchen Sie es aus! Aber immer schön geduldig mit sich selbst, gell? Viel Erfolg!

Michael Tomoff - Positive Psychologie und Coaching - Max - Verletzlichkeit

Max ist klinischer Psychologe und betreibt die Website www.hallo-max.de. Dort beantwortet er unter Pseudonym verschiedenste Fragen seiner Leser – diese berühren Themen wie Beruf, Partnerschaft und Familie, psychische Erkrankungen oder Sexualität.