Helen Keller, eine amerikanische Schriftstellerin aus Alabama, hat mich tief bewegt mit einem Aufsatz über das Sehen. Sie beschreibt ihr Unverständnis gegenüber Menschen, die ihr bei einem Waldspaziergang auf die Frage, was sie sähen, mit „Nichts Besonderes“ antworteten.
Es gibt eine Menge aus ihren Zeilen zu lernen…
Sie schreibt von ihrem Erstaunen, wie man es nicht wunderbar finden könne, die Hand auf die Rinde einer Birke zu legen und deren rauglatte Struktur zu betasten, die delikate Symmetrie eines Blattes zu spüren oder sogar den lauthalsen Gesang eines Vogels über den Stamm eines jungen Baumes zu fühlen.
Alte Hexe?
Wenn ich diese Sätze lese, stelle ich mir eine über Achtsamkeit predigende alte Frau vor, die – leicht verwirrt – durch den Wald geistert, gedankenverloren in den Himmel schaut und ihren abwesenden Blick mal hierhin und mal dorthin wandern lässt.
Und damit bin ich so weit von der Wahrheit entfernt, wie ich es nicht mehr sein kann.
Helen Keller ist einer jener Menschen, die nie das Glück hatten, bewusst sehen zu können. Sie hatte – seit ihrem zweiten Lebensjahr – nie die Chance, eine Birke zu bewundern, dem Gesang eines Vogels weder ein Bild noch einen Ton oder dem wunderschönen Duft einer Rose das dazugehörige Rot zu geben.
Was ich suche ist nicht da draußen, es ist in mir.
Helen Keller war taubblind.
Verständlich, dass diese Frau die Welt mit anderen Augen sah als wir. Verständlich, dass sie nicht begreifen konnte, dass jemand „Nichts Besonderes“ bei einem Waldspaziergang sieht. Verständlich, dass Helen Keller mich mit einem Gedankenexperiment beeindruckte, das das Potential hat, jedem von uns die Gänsehaut in den Körper zu treiben.
Drei Tage lang sehen können
Wenn Helen Keller der oberste Kopf einer Universität wäre, sie hätte den Kurs „Wie man seine Augen gebraucht“ zum Pflichtfach gemacht. Zwar hatte sie in ihrer Lebzeit nie die Chance, dieses Fach einzuführen, aber sie beschreibt in ihrem Aufsatz „Three Days to See“ eine Frage, die mich in der letzten Woche stark beschäftigt und auch meine Welt mit anderen Augen hat sehen lassen:
Was wäre, wenn Sie nur drei Tage die Fähigkeit hätten, zu sehen?
Was würden Sie tun, wenn Sie bisher in völliger Dunkelheit gelebt hätten und – sagen wir zum Geburtstag – das Geschenk bekämen, drei Tage lang zu sehen?
Helen Keller würde diese Zeit in drei Tage gliedern.
Tag 1 – Güte, Sanftmut und Kameradschaft
Am ersten Tag würde sie jene sehen wollen, die ihr bisheriges Leben durch Güte, Sanftmut und Kameradschaft das Leben lebenswert gemacht haben. Und zwar nicht nur durch das Ertasten ihrer Gesichtszüge, sondern durch das genaue Studieren. Sie würde die äußere Schönheit bewundern, die sie bereits im Innern dieser Menschen wahrgenommen hätte.
Sie würde in einigen sympathische Geduld sehen, die Stärke ihres Charakters in deren Augen, den starken Willen, etwas aus dem Leben zu machen und offen dafür zu sein. Sie würde tief in die „Fenster der Seele“ jener Menschen schauen, anstatt nur mit den Fingern darüber zu streichen.
Gute Freunde, die ihr nahe stünden und die sie gut kennen würde, weil sie sich durch die Monate und Jahre ihr gegenüber offenbarten in allen ihren Phasen, würde sie durch den Blick in ihre Augen einschätzen können. Von anderen, flüchtigen Freunden würde sie Dinge in ihren Gesichtern sehen, die über den Hauch von Worten hinaus gingen, den Helen vernommen, den sie ihnen mit den Fingerspitzen von den Lippen getastet hatte oder die sie ihr in ihre Handflächen buchstabierten.
Wie viel einfacher, wie viel befriedigender wäre es, die wesentlichen Eigenschaften und Eigenarten der Menschen in deren Gesichtern sehen zu können! Durch Beobachtung der Feinheiten des Ausdrucks, der Kontraktion eines Muskels, dem Zittern einer Hand.
Wie viele von uns können schon die Gesichter unserer fünf liebsten Menschen beschreiben? Wie viele müssen beschämt zum Boden schauen, wenn sie nach der Augenfarbe ihrer Ehefrau gefragt werden? Wie viele Zeugen haben Dinge „gesehen“, die so nie geschehen sind?
Helen Keller würde in das Gesicht eines Babys schauen, in die unschuldige Schönheit eines Menschen, der die individuellen Konflikte des Lebens noch nicht bewusst kennen gelernt hat. Sie würde in die treuen Augen ihrer Hunde blicken, deren Freundschaft ihrem Leben Komfort gab.
Mit Sicherheit ist die Welt voller Probleme. Aber solange wir Menschen haben die Probleme lösen, haben wir eine ganz gute Welt.
Sie würde am ersten Tag äußerst beschäftigt damit sein, sehend die kleinen und einfachen Dinge ihres Zuhauses zu beschreiben: die warmen Farben der Teppiche unter ihren Füßen, die Bilder an den Wänden, die persönlichen und intimen Kleinigkeiten, die ein Hause zu einem Zuhause werden lassen.
Am Nachmittag würde sie einen langen Spaziergang durch die Wälder machen und die berauschende Schönheit der Natur in sich aufsaugen. Die Pflanzen, die wundervollen Tiere, die fröhlichen Menschen, die von so viel Schönheit umgeben sind. Alles gekrönt von einem farbenprächtigen Sonnenuntergang (wenn ihr das Glück hold wäre).
Sie würde alles tun, um diese Eindrücke für die ewige Dunkelheit zu speichern, die nach dem dritten Tag wieder zurück käme.
Tag 2 – die Geschichte von Vergangenheit und Gegenwart
Nach dem Übergang der Nacht in den mit tausend verschiedenen Farben gespickten Morgen, wäre der zweite Tag der Geschichte gewidmet. Und zwar der Geschichte des Menschen, wie er die Vergangenheit zur Gegenwart gemacht hat mit all seinen Ideen und Erfindungen. Es wäre ein Tag der Museen, gefüllt mit ausgestorbenen Tieren, den Errungenschaften der schlauen Menschheit und der Entwicklung der Erde, realistisch nachgestellt durch fantastische wissenschaftliche Beweise.
Der Tag wäre gefüllt von Erfolge der Römer, Ägypter und Griechen, Bildern und Künsten von Michelangelo, Leonardo da Vinci, Rembrandt… Aber es wäre nur ein Splitter dessen, was jedem permanent sehenden Menschen zur Verfügung stünde.
Immerhin ein Splitter.
Der Abend des zweiten Tages wäre gefüllt mit Theater oder Kino, zum Beispiel mit den genauen Bewegungen und wunderschön geformten Sätzen Hamlets. Aber es gäbe natürlich bloß die Möglichkeit für ein Stück an jenem Abend, weil die Zeit nicht ausreichen würde für mehr.
Es wäre anders, als hätte man das Augenlicht für sein ganzes Leben. Dann könnte man jedes Theaterstück oder jeden Kinofilm anschauen, den man wollte.
Wie viele von uns realisieren das Wunder des Sehens, wenn wir eben dies in einem Theaterstück tun? Wie viele von uns bewundern nicht nur das Können der Schauspieler auf der Bühne oder der Leinwand, sondern sind dankbar für ihre Bewegungen, ihre Farben, ihre Grazie – verbunden mit der Sprache, die so viele zusätzliche Empfindungen ins uns weckt?
Tag 3 – ein Arbeitstag von heute
Auch den dritten Tag würde sie früh im Morgengrauen begrüßen und wäre gespannt auf alle Freuden, die der Tag für sie bereit hielte. Sie könnte keine Zeit verschwenden mit Bedauern oder dem Nachweinen, denn es gäbe noch so viel zu sehen!
Und nachdem der erste Tag ihren nahen und fernen Freunden gehörte, der zweite der Geschichte des Menschen, wäre der dritte der Arbeit gegönnt. Ein Arbeitstag in der heutigen Zeit, mit all seinen ihn füllenden Aktivitäten!
Sie würde an den Häusern vorbeistreichen, die Mütter und ihre Kinder inne hätten, über stählerne Brücken fahren, die wiederum ein Beweis für die Geisteskraft und Genialität des Menschen darstellten. Sie würde Boote und Schiffe sehen, die hin und herführen und könnte – wenn nicht so wenig Zeit wäre – den lieben langen Tag dort an einem Fluss sitzen und der Geschäftigkeit der schwimmenden Gefährte zuschauen.
Durch die Stadt mit ihren steinernen Gebäuden und Skulpturen, die Abbilder von den Dingen darstellten, an denen die Menschen häufig vorbeigingen, ohne sie bewusst wahrzunehmen.
Die Gewohnheit macht oft blind für das Allgegenwärtige.
Dann würde sie sich an eine Ecke stellen und die Menschen beobachten. Sie würde versuchen, alleine durch den Blick in ihre Gesichter einen Teil ihrer Leben zu verstehen.
Sie würde hier und dort ein Lächeln sehen und wäre glücklich.
Sie würde ernste Entschlossenheit sehen und wäre stolz.
Sie würde Leiden sehen und hätte Anteilnahme.
Sie würde die ausländischen Menschen beobachten und damit die Ferne, obwohl sie das Land nicht verließe. Ein Blick in die Armut und den Reichtum der Bewohner der Stadt, um sowohl Glück und Unglück, Wohlbefinden als auch Elend zu sehen und so eine Ahnung von der Spannbreite zu bekommen, wie gelebt und gearbeitet würde.
Manch Anblick wäre schön und erfüllte ihr Herz mit Freude. Vor dem Anblick, der dem Auge nicht gut täte, verschlösse sie ebenfalls nicht die Augen, denn der Anblick wäre Teil des Lebens.
Der dritte Tag des Sehens wäre dem Ende nah. Um Mitternacht würde die Frist ablaufen, permanente Nacht sich erneut auf Helen senken. Selbstverständlich hätte sie nicht alles sehen können, was es zu sehen gegeben hätte. Erst um Mitternacht käme die bedrückende Erkenntnis, dass es noch viel mehr gegeben hätte und auch nach dieser dunklen Mitternacht noch so viel zu sehen geben würde.
Doch, so schreibt Helen, würde jede Berührung eines Objektes, dessen Anblick sie in ihrem Gedächtnis gespeichert hätte, ihr herrlich leuchtende Erinnerungen verschaffen, so dass es keine Zeit für Bedauern gäbe.
Was würden Sie sich in drei Tagen anschauen?
Die Beschreibungen von Helen Keller lassen mich traurig, aber auch unermesslich dankbar werden. Traurig, weil es in der Tat so viel gäbe, dass sehenswert wäre und doch in der Kürze der Zeit nicht gesehen werden kann.
Dankbar, weil Helen mir auf diese wahrhaft feinsinnige, wertschätzende und dankbare Art und Weise wieder klar gemacht hat, welche Schätze uns umgeben, welch wunderbare Dinge unsere fantastischen Augen jeden Tag erblicken können, wenn wir unseren Fokus, unsere Aufmerksamkeit auf sie richten.
Mit nur drei Tagen Sehkraft würden wir alles mehr schätzen, was wir sehen, was sich uns darbietet oder auch versucht, sich unseren Blicken zu entziehen. Wir würden mit unseren Augen vielleicht das erste Mal wirklich sehen. Wie ein Kind, dass die Welt das erste Mal erblickt und doch genug Verständnis hat, diese Dinge einzuordnen, abzuspeichern und ein Leben lang als süße Erinnerung wieder herbei zu beschwören.
Was würden Sie sich anschauen?
Wen würden Sie sich einprägen?
Foto: Helga Birna Jónasdóttir via flickr
Ich hab als Kind ein Buch über Helen Keller und ihre Lehrerin gelesen. Das hat mich sehr beeindruckt und ich denke auch jetzt noch oft daran. Ich frage mich oft, wie das für Helen am Anfang war. Wie denkt man, wenn man keine Worte hat?
Neulich habe ich in einem Reiseblog gelesen, dass sehr viele Australier morgens auf dem Weg zur Arbeit am Meer anhalten, eine Weile aufs Meer schauen und dann weiterfahren. Das hat mich auch beeindruckt. Man sollte öfter den Trott durchbrechen, innehalten und sich etwas schönes anschauen.
Welch schöne meditative und achtsame Übung, der Stopp am Meer! Und selbst, wenn man nicht Australiens Gewässer um sich hat – es gibt immer Wertvolles zu sehen.
Danke für’s Teilen!
Auch ich habe in meiner Jugend die Biographie über Helen Keller gelesen und war ebenso fasziniert von ihrer Geschichte. Mich hat beeindruckt, wie Helen Keller fast nur über den Tastsinn so viel wahrgenommen und mit ihrer Welt kommuniziert hat und wie wenig man manchmal selbst wahrnimmt, obwohl einen sämtliche Sinne zur Verfügung stehen.
… Und mit drei Tagen Sehen würde ich vermutlich viel weniger Zeit auf den Bildschirm schauen…
Und was würdest du anstatt dessen machen, liebe Roni?