Fehler können schön sein. Oder etwas schön machen. Sie können Dinge verändern. Und das oft zum Guten. Dieser Text ist ein Versuch, Ihnen die Lust an Fehlern anhand von kintsugi (einer traditionellen japanischen Reparaturmethode) zu vergrößern und deren Schönheit zu verdeutlichen.

Wertverlust durch Fehler?

Wenn uns etwas Schlimmes widerfährt, wie beispielsweise das Auseinandergehen einer Beziehung oder der Fehlschlag eines Geschäftsprojekts, neigen wir oft dazu, den Fehler bei uns zu suchen. Wir betrachten uns als fehlerhaft, als zerrissen und unvollkommen.

Bei materiellen Dingen sind wir es gewohnt, Dinge als weniger wertvoll zu betrachten, wenn sie gerissen oder zerbrochen sind.

Doch auch bei uns selbst ist dies der Fall. Wir betrachten uns nach Fehlern schnell als wertloser. Instinktiv ignorieren wir den Bruch und überdecken den Schmerz, überspielen ihn oder lenken uns von ihm ab. Ist das clever?

Wir stehen nicht gerne zu unseren Fehlern

Was, wenn wir unsere Wahrnehmung etwas verlagern könnten? Was, wenn wir die Fehler voller Wertschätzung und vielleicht sogar als schön auffassen könnten? Wie immer leichter gesagt als getan. Deshalb hier ein paar Gedanken für Sie, die es erleichtern werden, auch die Angst vor Fehlern zu verringern.

Michael Tomoff - Was Wäre Wenn - Positive Psychologie und Coaching - kintsugi Fehler machen uns erst schönEs gibt eine wundervolle japanische Kunstform, in welcher Künstler gebrochenes Keramik mit Gold- oder Silberlack flicken.

Sie wird kintsugi genannt.

Wenn eine Teetasse bricht oder eine Vase einreißt, werden bei Kintsugi die gebrochenen Stücke wiederverwendet. Sie werden wieder akribisch genau aneinandergesetzt, wobei die Risse durch den Lack hervorgehoben statt versteckt werden.

Glänzende, goldene Spannung hält die Keramik zusammen, was in einem wunderschönen einzigartigen Stück resultiert, das nicht kopiert werden kann.

Schönheit ist das Zusammenspiel aus Perfektion und Fehlern, denn nur Fehler haben die Fähigkeit der Perfektion, die Einzigartigkeit zu geben.

Wie können wir kintsugi auf den Menschen übertragen?

Warum nicht dem Zerbrochenen mit einem Gefühl von Ehrfurcht begegnen, anstatt den Schmerz einer vergangenen Beziehung auszulöschen oder den Fehler eines vergangenen Projekts zu verbergen?

Warum nicht die einzelnen Stücke von uns mit einer wunderschönen, bestechend auffälligen Goldfüllung vorsichtig wieder miteinander verbinden?

Und warum nicht zu dieser Kunst, zu dieser sichtbaren Wiedervereinigung und Neuschaffung stehen?

Konkrete Hilfsmittel wären beispielsweise der Kommunikationsrahmen der gewaltfreien Kommunikation oder auch das Konzept Radical Honesty, über das ich hier einen Erfahrungsbericht geschrieben habe.

Wenn wir keine Fehler machen würden, wie könnten wir uns dann entwickeln?

Das Prinzip des kintsugi geht noch einen Schritt weiter. Es akzeptiert Fehler nicht nur, es schätzt sie wert – sie werden wert-voll.

Ich möchte Sie einladen, Ihre Fehler nicht nur zu akzeptieren. Schätzen Sie sie wert! Begegnen Sie Ihnen mit Ehrfurcht. Denn sie machen uns zu etwas Besonderem und geben uns die Lebenserfahrung, die uns zu dem macht, wer wir sind. Zu wunderschönen, einzigartigen Persönlichkeiten.

Mit jeder inneren und äußeren Narbe zeigen wir, welchen Weg wir gekommen sind und dass auch all das zu uns gehört.

„There is a Crack in everything. That’s how the light gets in.“
(„Es gibt in allem einen Riss. So gelangt das Licht hinein.“)
–Lennard Cohen

Dass kintsugi nicht eine Kunstform ist, sondern auch in jedem Menschen vorkommt, zeigt diese kleine lehrreiche Anekdote. Sie enthält eine ganz besondere Art der Entschuldigung von einem Fehler.

Eines Tages stellte sich ein junger Mann in die Mitte des Ortes und verkündete, er habe das schönste Herz im ganzen Tal. Eine große Menge versammelte sich um ihn, und alle bewunderten sein Herz, denn es sah vollkommen aus. Nicht eine Schramme war daran und nicht die kleinste Delle. Ja, alle stimmten zu, dass dies wirklich das schönste Herz sei, das sie je gesehen hatten.

Der junge Mann war sehr stolz und prahlte noch lauter mit seinem schönen Herzen. Plötzlich trat ein alter Mann aus der Menge heraus und sagte: „Ach was, dein Herz ist lange nicht so schön wie meines!“ Die Menge und der junge Mann blickten auf das Herz des Alten.

Michael Tomoff - Was Wäre Wenn - Positive Psychologie und Coaching - kintsugi HerzEs schlug stark, doch es war voller Narben. Stücke waren herausgebrochen und andere eingesetzt, aber sie passten nicht genau, und so gab es raue Kanten. Tatsächlich waren da sogar mehrere tiefe Löcher, wo ganze Teile fehlten.

Die Leute starrten darauf.
Wie kann er sagen, dachten sie, sein Herz sei schöner?

Der junge Mann schaute auf das Herz des Alten, sah seinen Zustand und lachte. „Du machst wohl Witze“, sagte er. „Vergleich dein Herz mit meinem: Meines ist vollkommen und deines ist voller Löcher!“

„Ja“, sagte der alte Mann, „dein Herz sieht vollkommen aus, aber ich würde doch niemals mit dir tauschen. Weißt du, jede Narbe steht für einen Menschen, dem ich meine Liebe gegeben habe. Ich nahm ein Stück von meinem Herzen und gab es ihm, und oft gab er mir dafür ein Stück von seinem eigenen Herzen, das den leeren Platz in meinem ausfüllte. Aber weil die Stücke nicht genau gleich sind, habe ich ein paar Unebenheiten – die ich in Ehren halte, weil sie mich an die Liebe erinnern, die wir geteilt haben.“

„Manchmal“, fuhr er fort, „habe ich ein Stück meines Herzens weggegeben und der andere Mensch gab mir kein Stück von seinem zurück. Das sind die Lücken. Liebe zu geben ist immer ein Risiko. Diese Lücken schmerzen, doch sie bleiben offen und erinnern mich an die Liebe, die ich auch für diese Menschen habe, und ich hoffe, dass sie mir eines Tages etwas zurückgeben und den leeren Platz füllen, der darauf wartet.“
„Siehst du jetzt“, fragte der Alte, „worin die Schönheit meines Herzens besteht?“

Der junge Mann stand schweigend da und Tränen liefen über seine Wangen. Er ging zu dem alten Mann, dann griff er nach seinem perfekten, schönen Herzen und riss einen Teil heraus. Mit zitternden Händen bot er es dem Alten an. Der alte nahm es an und setzte es in sein Herz, dann nahm er ein Stück seines alten, narbigen Herzens und setzte es in die Wunde im Herzen des jungen Mannes. Es passte aber nicht ganz genau, so blieben einige raue Kanten. Der 

junge Mann schaute auf sein Herz, das nicht mehr vollkommen war, aber doch schöner als je zuvor, weil Liebe aus dem Herzen des alten Mannes hineingeflossen war.

Literatur:

Das schöne Herz: http://robert-betz.com/mediathek/inspirationen/das-schoene-herz/