Unsere Komfortzone verhindert schnelles Wachstum. Dafür ließ uns Angst überleben. In Urzeiten vor Säbelzahntigern und anderem kuscheligen Ungetier.

Heute, in säbelzahltigerlosen Zeiten, vermag Angst vornehmlich Folgendes zu verrichten: Sie limitiert unsere Sicht.

Sie macht schon in jungen Jahren kurzsichtig. Sie lässt uns übersehen, was funktionieren kann. Sie lässt uns in Gedanken wahrscheinlicher finden, welch negative Dinge passieren können. Sie stoppt Menschen vor dem Antritt einer Reise, weil sie sich davor fürchten, dass ihre Kraft oder ihre Reserven, Kenntnisse oder Fähigkeiten nicht bis ans Ende dieser Reise ausreichen werden.

Was wir vielfach durch die Angst nicht realisieren: viele Dinge ergeben sich erst auf der Reise. Dinge, die dem Weiterkommen dienen. Überraschende Fakten, die Wissen vermitteln und die nächsten Kilometer der Reise möglich machen. Und Menschen, die dort am Wegesrand stehen und helfen.

Wenn Sie auch Angst vor Fehlern haben – ich kann das verstehen.

Wirklich, ich kann’s.
Wir werden ja schon früh aus unserer Komfortzone herausgeworfen.

Schon als Kind mit Rot angestrichen

In Coachings spreche ich fortwährend wieder mit Menschen, die extrem hohe Leistungen in ihren Jobs bringen. Sie arbeiten hart. Sowohl an sich als an anderen. Sie fordern eine Menge von sich, geben ihr Letztes, um eine Aufgabe in optimaler Weise zu erledigen und gehen noch einen Schritt weiter, bevor sie sich zur Ruhe setzen.

Wenn sie sich zur Ruhe setzen.

Das Spannende und gleichzeitig Bedrückende ist: fast alle dieser Menschen äußerten in den Gesprächen eine Art von Angst, Fehler zu machen. Beim Erzählen war kaum einer der Coachees in seiner oder ihrer Komfortzone – es fiel allen schwer, davon zu berichten.

Und seien Sie versichert: Es ging in diesen Gesprächen nicht um die lebensbedrohlichen Fehler, die einen unter die Füße eines Mammuts bringen würden. Keine Existenz war bedroht, kein Leben stand auf dem Spiel.

Als Schüler waren z.B. unangekündigte Vokabeltests verhasst. Niemand konnte sich auf sie vorbereiten, wenn er nicht schon damals die „erwachsene“ Eigenschaft der Weitsicht hatte oder sich nicht vorbereiten brauchte, weil er oder sie gut genug war oder ohnehin jeden Tag lernte.

Sprich: für den Großteil der Schüler:innen war es ein Graus. Die Scham, von den Lehrern den rot angestrichenen Zettel wiederzubekommen, auf dem das Fehlen von Wissen bescheinigt war: grausam.

Woher kommt die Angst, aus der Komfortzone zu gehen?

Im Job sollen Schnelligkeit und Genauigkeit einhergehen, um den Gewinn zu maximieren, den man bei und mit seiner Arbeit erreicht. Das zerrt sehr stark an der Komfortzone und wirft einen immer wieder raus. Gerade anfangs lange zu benötigen und trotzdem Fehler zu machen – kein besonders erfolgreiches Gefühl.

Auch in partnerschaftlichen Beziehungen gibt es Mienenfelder, die nach ein, zwei Fehlversuchen abgesteckt sein sollten. Hier fällt es uns jedoch häufig leichter, Fehler zu machen – wir fühlen uns scheinbar mehr in unserer Komfortzone als außerhalb der eigenen Beziehung.

Aber gerade bei dem liebsten Menschen der Welt sollte doch der Lerntrieb am größten sein, die selben Fehler zu vermeiden (oder zumindest – z.B. mit dem Zwiegespräch darüber zu sprechen).

In fünf Studien mit insgesamt 1.674 Teilnehmern fanden Eskreis-Winkler & Fishbach (2019) heraus, dass ein Scheitern das Lernen tatsächlich behindern kann, obwohl unsere Gesellschaft Fehler oft als lehrreiche Momente feiert.

In den Studien wurden den Teilnehmern nach beantworteten Fragen Rückmeldungen gegeben, ob sie richtig (Erfolg) oder falsch (Misserfolg) geantwortet hatten. Beide Arten von Rückmeldungen gaben den Hinweis auf die richtige Antwort, da es ja nur zwei Antwortmöglichkeiten gab.

Jedoch zeigte sich, dass die Teilnehmer:innen bei einem anschließenden Test weniger aus dem Misserfolg gelernt hatten als aus dem Erfolg.

Dieses Ergebnis wurde in verschiedenen professionellen, sprachlichen und sozialen Bereichen repliziert. Und selbst, wenn ein Lernen aus einem Misserfolg weniger kognitiv anspruchsvoll war und sogar wenn es Anreize dafür gab, zu lernen, wurde der Lerneffekt nicht größer.

Teilnehmer:innen, die Misserfolgserfahrungen gemacht hatten, erinnerten sich auch an eine geringere Anzaghl ihrer Antwortmöglichkeiten.

Warum beeinträchtigt Misserfolg das Lernen?

Misserfolg bedroht das Selbstwertgefühl und führt dazu, dass Menschen abschalten und verpassen, welche Erkenntnisse das Feedback enthält.

Teilnehmer:innen lernten weniger aus persönlichem Misserfolg als aus persönlichem Erfolg, jedoch lernten sie genauso viel aus dem Misserfolg anderer wie aus dem Erfolg anderer – wenn ihr Selbstwertgefühl keine Rolle spielte.

Wenn also die Sorge um das Ego gemindert wird, sind Menschen eher bereit, aus Misserfolgen zu lernen. Und wenn das Ego bedroht war, hatte das die Teilnehmer:innen enorm aus deren Komfortzone gebracht!

Denn sie tun nicht, was sie wissen

Es besteht eine Spannung zwischen dem Wissen, dass Fehler auch Lernchancen bieten, und der Realität, dass Fehler oft negativ sanktioniert werden. Zum Beispiel durch kritische Blicke, fehlende Anerkennung, Enttäuschung oder sogar Kündigung.

Die Angst vor Fehlern beginnt früh. Neben der Bedrohung des Selbstwertes könnte ein weiterer Grund für diese Angst sein, dass wir zwar aus eigener Erfahrung wissen, dass Fehler hilfreich sind und Möglichkeiten der Entwicklung darstellen, aber unsere Kinder dennoch tunlichst und stark davor bewahren, Fehler zu begehen.

Wer möchte seine Jüngste auch hinfallen sehen, wenn es absehbar ist, dass sie fällt und sich dabei arg weh tut? Das gibt ein schlechtes Gewissen.

Das subtile Misstrauen an den Nachwuchs

Aber andere vor Fehlern zu schützen, kann zusätzlich eine andere, subtilere Botschaft vermitteln: „Ich glaube nicht, dass du stark genug bist, um alleine mit den aufkommenden Hürden und Fehlern umzugehen.“ (Deswegen mache ich deine Komfortzone so groß wie möglich.)

Das wird kein Kind bewusst so empfinden (die Eltern meinen’s doch nur gut!). Aber vielleicht ist es genau das, was den Teenager so abtrünnig werden lässt von den beschützenden Ratschlägen der wohlwollenden Mutter („Zieh dir was Wärmeres an!“).

Später schauen wir uns um und sehen eine Vielzahl von genialen Menschen, die es zu etwas gebracht haben. Darunter viele der Perfektionisten, die den hohen Anspruch an sich und andere hatten – und trotzdem viel in ihrem Leben „falsch“ gemacht haben.

Dinge, von denen wir am Ende lernen können, wenn wir ihre Geschichten hören.

Wichtig scheint die Abschätzung zu sein, welche Dinge ein anderer Mensch aus eigener Kraft erfahren sollte und vor welchen er geschützt oder in welche er sanft hineingeführt werden könnte.

Keine einfache Aufgabe, liebe Eltern, oder?

Das Wissen ist da – was fehlt zum Handeln? (aka Komfortzone)

Wir wissen, dass Fehler unvermeidlich sind und irren ja nur menschlich ist. Gleichwohl versuchen wir an diesem Punkt un-menschlich zu sein und Fehler zu vermeiden.

Ein positiver Umgang mit Fehlern ist ein wichtiger Schritt zur Entwicklung von Gelassenheit, persönlichem Wachstum und Akzeptanz sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Komfortzone.

Trotz des Wissens aus eigener Erfahrung sind Theorie und Praxis ebenso hier zwei verschiedene Dinge.

Meine Fragen an Sie ist heute demzufolge:

  • Was fehlt Ihnen, damit Sie dieses Wissen umsetzen, möglicherweise aus Ihrer Komfortzone herauskommen und dementsprechend handeln können?
  • Was brauchen Sie, um Fehler zu Wachstum werden zu lassen anstatt sich durch die Angst vor Ihnen zu beschneiden?
  • Was braucht es, dass Sie Ihre Energie nicht der Fehlervermeidung widmen, sondern in Selbstentwicklung stecken?

Niemand sagt, dass es einfach ist, Fehler zu machen und daraus zu lernen. (tweet)

Aber wenn Sie an die Erfahrungen denken, die Sie aus Fehlern generiert haben, finden Sie mit Sicherheit eine Sache oder eine Eigenschaft, die Sie nun an sich schätzen.

Eben aufgrund des gemachten Fehlers.

Was wäre das schlimmste, das passieren könnte?

Eine kleine Übung zum Schluss, die Ihnen vielleicht helfen kann, für sich herauszufinden, wer oder was ihr eigentlicher Säbelzahntiger ist, vor dessen Klauen Sie sich schützen wollen. Oder sogar glauben, sich schützen zu müssen.

Fragen Sie sich, was das Schlimmste wäre, dass aus einer dieser ängstlichen Situationen entstehen könnte. Und dann gehen Sie dem Bedürfnis nach, das der Angst zugrunde liegt.

Was passiert, wenn Sie vor Ihren Kollegen nicht den „perfekten“ Vortrag abliefern? Wenn Sie anstelle dessen Wissenslücken aufzeigen, stottern, einen roten Kopf bekommen und alle zwei Minuten zu ihrem Wasserglas greifen, weil nicht nur Sie Ihren trockenen Mund hören können?

Was passiert, wenn Sie den Kunden nicht von Ihrem Produkt überzeugen?

Oder Sie auf die Nachfrage nach Hilfe ein Mal Nein sagen?

Und was würde dann passieren? Und dann? Und danach?

Was bleibt am Ende übrig?
Ihr Bedürfnis nach Anerkennung?
Ihre Angst, alleine zu sein oder es für immer zu bleiben?
Keine Liebe zu bekommen?

Wie wahrscheinlich ist dieses schlimmste Szenario?

Fazit: Überlassen Sie Ihrer Angst nicht das Denken. (tweet) Sie meint es zwar gut mit Ihnen, ist aber eine schlaue Lügnerin und übertreibt gerne einmal…

Und ein kleiner Nachtrag zur Angst (beim Vortragen): Kennen Sie den Schönheitsfehler-Effekt? Es ist ein mittlerweile alltägliches psychologisches Phänomen, durch das die Attraktivität bzw. Kompetenz einer vortragenden Person sogar steigert, wenn sie sich einen Fehler oder eine peinliche Aktion erlaubt.

Warum? Eine überlegene Person wirkt attraktiver, wenn sie einen ungeschickten Fehler macht, während derselbe Fehler die Attraktivität einer mittelmäßigen Person eher verringert. Die Forscher:innen hatten vorhergesagt, dass eine überlegene Person als übermenschlich und distanziert betrachtet werden könnte, und ein Fehler neigt dazu, sie menschlicher erscheinen zu lassen, was ihre Attraktivität erhöht.

Es ist für viele Menschen schwer zu begreifen, dass jemand unmenschlich perfekt sein soll und durch einen Fehler wird jene Menschlichkeit wieder gezeigt und die Zuschauer können sich wieder stärker mit dieser Person identifizieren (Aronson et. al, 1966). Und kommen damit selber wieder mehr in ihrer Komfortzone an.

Foto: sxc

Literatur

Aronson, E., Willerman, B. & Floyd, J. The effect of a pratfall on increasing interpersonal attractiveness. Psychon Sci 4, 227–228 (1966). https://doi.org/10.3758/BF03342263

Eskreis-Winkler, L., & Fishbach, A. (2019). Not Learning From Failure—the Greatest Failure of All. Psychological Science, 30(12), 1733–1744.