Wachstum heißt auch immer “aus etwas heraus wachsen”. Als Kind aus den ersten Schuhen, als Jugendlicher aus rebellischen Ansichten, als Erwachsener aus den Stapfen seiner Eltern.

Oft begleitet von Wachstumsschmerzen entwickeln wir uns durch das Verlassen unserer Komfort-Zonen. Manche Menschen entwickeln sich stark durch äußere Reisen, die auch immer wieder innere hervorrufen.

André Schumacher ist so einer.

Zuerst Student der Architektur in Potsdam, der Bildenden Künste in Edinburgh, Design, Philosophie und Soziologie. Nach drei Jahren als freiberuflicher Architekt auf den Kanarischen Inseln machte er das, wovon viele Menschen immer noch träumen, während sie den Mut dafür noch suchen: er gab seinen Job auf, räumte seine Wohnung und startete mit dem Rad eine ungewöhnliche Reise.
Von Patagonien nach Alaska.

Das war der Anfang.

Der Anfang von Abenteuern in vorerst fremden, dann ans Herz gewachsenen Ländern.
Der Anfang von ehrlichen Bekanntschaften, die zu tiefen Freundschaften wurden.
Der Anfang vom Wachstum – heraus aus alten Bahnen, hinein in neue Werte, entdeckte Stärken und größeres Schuhwerk.

Mittlerweile ist André in die großen Schuhe eines Fotografen und Geschichtenerzählers hineingewachsen. Was mich an ihm fasziniert ist seine wunder-volle Reise durch die Welt und sein Auge für’s Detail – in der Natur, im Menschen, in den Verknüpfungen der Dinge an sich. Und: André zeigt Leidenschaft, die immer wieder inspirierend ist und mir zeigt, was alles geht!

Also ein Mensch, von dem Sie und ich noch viel lernen können.
Und lernen werden.

Kanaran-Vögel – Ohne Flügel, ohne Bus

Ich hatte die Chance, mit André ein Interview zu führen, das mich im Nachhinein genauso fasziniert hat, wie mein erster Kontakt mit ihm, ein farbenprächtiger und witziger Dia-Abend über eine seiner großen Reisen – in 80 Tagen um die Welt.

André arbeitet zur Zeit an einem neuen Projekt: eine Reportage über die Kanaren, die er von Ost nach West zu Fuß durchgehen wird. Von Lanzarote bis nach El Hierro. Sechs Monate lang. Ohne Flügel, ohne Bus, ohne Fahrrad. Dafür mit einer Decke, einer Kamera und einem Würfel. Offen für alles und ganz im Sinne Henry Millers, der einmal sagte:

Leben ist das, was uns zustößt, während wir uns etwas ganz anderes vorgenommen haben.

Ziel ist ein tiefgründiges, hochwertig fotografiertes und sinnliches Porträt der Inseln. Der Fokus liegt dabei auf Land und Leuten. Auf einer Identität der Kanaren, die sich in grandiosen Landschaften und ihren beizeiten kuriosen Bewohnern manifestiert.

Es ist nur ein kleiner Blick in seine Welt. Es gibt jedoch viel zu entdecken.

Bitte folgen Sie mir, denn Mikro und Tonband stehen schon bereit…

Das Interview mit André Schumacher

André! Schön, dich wieder einmal live erleben zu dürfen! Du hast schon einige Abenteuerprojekte hinter dir. Du hast dir eine kühle Nase bei etlichen Rad-Kilometern in Norwegen geholt, bist auf beiden Beinen ganze 1600 Kilometer(!) vom Österreichischen Wien über die Dolomiten bis ins Schweizer Vals gewandert. Wie kamst du schließlich auf die Idee, die kanarischen Inseln zu erkunden?

Ich bin vorbelastet, denn ich habe dort vor vielen Jahren gelebt. Nach dem Studium verschlug es mich nach Spanien. Anfangs noch als Architekt im Baskenland bei der Arbeit, dann auf Teneriffa. Ich habe viele kleine Schritte gemacht. Das war mein erster wirklich großer in die Welt – und eine wunderbare Zeit! Und das ist leicht nachzuvollziehen mit dem Atlantik vor der Haustür, einem Viertausender im Rücken, Meeresfrüchten und schwerem Wein von der Hand in den Mund…

Und dann?

Wollte ich zurückkommen. Schauen, wie sich das anfühlt. Freunde wieder treffen, die noch dort sind. Die Inseln besuchen, die mir noch unbekannt waren.
Und all das ganz langsam.
Da war die Idee nicht weit, die Inseln großen Schrittes zu durchqueren. Von Lanzarote im Osten bis nach El Hierro im Westen. Ein halbes Jahr lang: Ich auf der Suche nach mich berührenden Geschichten, nach Personen, die etwas zu sagen haben, nach unbesungenen Orten.

Welche Kriterien lagen denn der Reihenfolge der Reise zugrunde?

Kannst du dir das Ende der Welt vorstellen? Die westlichste Insel der Kanaren galt in der Antike als eben jenes. Als sichtbares Zeichen  an der südwestlichen Spitze El Hierros wurde der Leuchtturm Faro de Orchilla errichtet, der sich bis heute hoch auf einer Klippe aus der Lavalandschaft erhebt.

Ich kann mir keinen schöneren Abschluss für meine Wanderung vorstellen!

Wanderst du einfach der Nase nach?

Im Vorfeld habe ich mir faszinierende Landmarken herausgesucht, die ich mir nicht entgehen lassen möchte.
Darunter ein Nationalpark.
Ein Berg.
Ein Baum.
Ich sehe bereits im Vorhinein Wege, die ich gerne gehen möchte. Und auf diesen besuche ich auch Künstler, Politiker und Träumer. Doch diese Wegpunkte, dieses grobe Gerüst lässt mir die Offenheit für das, was sich entlang des Weges ergibt.

Und du weißt selbst, wie schnell sich etwas ergibt: Ich frage irgendwo nach Wasser, und man kommt ins Gespräch. Sie sagen, ihre Verwandten erwarten mich bereits. 30 Kilometer von hier entfernt. Links in den Bergen. Und schon trage ich einen Gruß persönlich von hier nach dort und bin in einer anderen Hütte Gast.

Das riecht nach Spontaneität! Und wo übernachtest du? Unter freiem Himmel? Mir würde das ein schummriges Gefühl in der Magengegend machen!

Ein Zelt habe ich dieses Mal nicht im Gepäck. Es regnet einfach zu selten, und abgesehen von der dünnen Luft auf dem Dutzend hoher Berge ist nichts wirklich kalt.
Isomatte und leichter Daunenschlafsack sind meine Weggefährten.
Der freie Himmel über mir meine Decke. In den Bergen oder am Strand.
Oft laden mich Einheimische ein und sind nach dem letzten getrunkenen Cortado stolz darauf, dass ich die Inseln zu Fuß durchlaufe.
Ihr Hinterland.

Daunenschlafsack und Isomatte? Das war’s?

Ja, das lag mir am Herzen. Meinem eigenen Rhythmus folgen und auch die Stille genießen, wenn mir danach ist. Rasten, wo es mir gefällt. Miss Canarias, die gerade aus den Fluten steigt, bewundern und mich zu ihr setzen. Oder 50 Kilometer strammen Schrittes durchziehen, bis ich ohne stützende Wanderstiefel nicht mehr stehen könnte und mich dieser wunderbaren Müdigkeit hingebe, die nach solchen Tagen Besitzt von mir ergreift.

Da kommt man zu sich!

Absolut. Ich bin aber nicht immer alleine. Ab und an gesellt sich wunderbare Abwechslung zu mir! Alte Bekannte von den Inseln, Freunde aus Berlin, ja, sogar Besucher meiner Vorträge, die ich persönlich überhaupt nicht kannte. Da lerne ich, dass sowohl Stille als auch der Austausch auf mich große Faszination ausüben.

Und was lauert in den dunklen Ecken der Inseln? Fürchtest du dich nicht manchmal?

So, wie ich mich von den Inseln eingeladen fühle, lade ich auch die Dinge ein – und sie passieren. Auf wundersame Weise.

Hm, ich hatte das noch nie, Angst vor etwas an solchen Orten. Ich glaube fest daran, dass zurückkehrt, was man ausstrahlt. Nepal und mein Jahr dort haben mich in dieser Hinsicht verändert: Es ist der eigene Kopf, der die Grenzen setzt. Mein Geist schafft die Realität. Und diese Erkenntnis ist für mich sehr wertvoll!

Na, das spricht ja dem Blog und mir aus der Seele! Grenzen sprengen, seine eigene Zukunft schaffen – herrlich! Apropos Grenzen: Nicht nur dein Kopf setzt sie, dein Rucksack hat ja auch welche, oder?

Verglichen mit anderen Wanderungen ist mein Weg durch die Kanaren purer Genuss.
Mit einem Zentner Gepäck zwei Jahre mit dem Fahrrad durch Südamerika.
Zu Fuss 35 Kilogramm über 6.000 Meter hohe Pässe die Cordillera Huayhuash wuchtend. Essen für zwei Wochen, Seile, Steigeisen und die Dinge, die einem die Lust am Leben erhalten, wenn man bei minus 20 Grad die Welt bestaunt.

André Schumacher bettet sich

Nein, dieses Mal spartanisch. Den Daunenschlafsack für die Schlafphasen. 300 Gramm. Ein paar Klamotten. Wie auf der Arche Noah alles zwei Mal. Einen Teil tragen, der andere wird gewaschen.

Für das Festhalten der Eindrücke meine Fotoausrüstung. Ein paar schöne Bücher, Schreibzeug und Miles Davis in den Ohren.

Das heißt? Wie viel Kilo?

Um die 15 Kilo. Nur punktuell mehr, wenn ich das Trinkwasser für einige Tage mit mir trage.

Keinen zusätzlichen Proviant? Pflückst du Beeren?

(André lacht) Volltreffer! Auch in dieser Hinsicht sind die Kanaren luxuriös und machen es mir im wahrsten Sinne des Wortes leicht. Ein Haus ist immer in der Nähe, ein kleines Dorf mit einem Chiringuito und gutem lokalen Fisch, wenn das Dorf am Meer liegt oder Fleisch und Käse, wenn ich in den Bergen unterwegs bin.

Und je weiter man nach Westen kommt, desto grüner wird die Landschaft. Und dann pflücke ich tatsächlich Brombeeren und Feigen, mit denen die Barrancos vollhängen. Die Berge überziehen Teppiche von Feigenkakteen. In den Dörfern hängen dir reife Trauben quasi in den vor Staunen geöffneten den Mund. Wozu Proviant mit ins Paradies nehmen?

Die Kanaren bestehen ja aus mehreren Inseln. Hast du eine Vorahnung, welche für dich vermutlich am schwierigsten zu durchwandern sein wird?

Auf Gran Canaria hat mich damals eine heftige Hitzewelle ernsthaft gequält.
Einen Monat lang mit 40 Grad und mehr.
Calima heißt das dort und für einen Kerl wie mich ist diese warme, trockene Luft aus der Sahara samt ihrem feinen, gelben Sandstaub kein Zuckerschlecken. Mitunter legt sie gar den Flugverkehr lahm.

Und wo dieses Wetterphänomen bis vor 10 Jahren leidig aber akzeptabel war, weil es nur wenige Tage im Jahr andauerte, scheinen sich die Winde mittlerweile verschoben zu haben.
Die Hitze bleibt.
Seit eineinhalb Jahren hat es auf den Kanaren nicht einen Tropfen geregnet!

Ich kann es mir vorstellen: André, barfuß durch die Landschaft… Wie sehen dich aber die Menschen auf den Kanaren? Verrückt, weil er zu Fuß ihre Inseln überquert? Wie sieht’s mit Offenheit, Integration, Aufnahme aus?

Du wärst überrascht: Die Einwohner der Kanaren sind einfach wunderbar! Ähnlich den Festlandsspaniern, aber noch einen Gang entspannter und mit kräftigem lateinamerikanischen Einschlag. Wenn der eine mich zum Grüßen zum anderen schickt, ist der immer offen für ein Abendessen und bietet mir die weltbesten Meeresfrüchte an, vom Ziegenkäse ganz zu schweigen. Ein Glas Wein unter Freunden, neben dir der Strand, ein See. Die Wärme in den roten Wangen, die Beine baumelnd im Wasser.
Da fällt das Integrieren nicht schwer! Ein bisschen Que tal? und Que fresquito el agua! – und schon ist man im Gespräch.

Verwunderung ist dennoch vorhanden, auch wenn die Spanier damit sicherlich nicht alleine sind.
Kann denn ein Argentinier begreifen, dass jemand mit einem Fahrrad von Ushuaia bis nach Salta radelt?
Kann ein Deutscher begreifen, sechs Monate frei zu sein?
Was können wir uns noch vorstellen in einer Zeit, in der wir ins Auto steigen, um ins Fitness-Studio zu fahren?

Solche Touren sind oft voll von Anpassungen. Wenn du – nach deinen bisher vier durchwanderten Inseln – eine erste Bilanz ziehst: Was hast du unterschätzt?

In der Tat die Hitze auf Gran Canaria. Was mich noch erwartet, kann und will ich nicht abschätzen. Das halten die Inseln für mich bereit und bescheren mir so die beste Variante: Losgehen, die Insel aufnehmen, so dass sie mich aufnehmen kann. Einnehmen kann.
Was kommt, das kommt.

Die Abschlussfrage für den einsamen Wanderer: Mit welcher Insel flirtest du am liebsten? Hast du einen Liebling?

Wenn ich in mich gehe, bin ich selbst überrascht: Es ist wohl Fuerteventura. Das alte Schmuckstück der Kanaren. Die am dünnsten besiedelte Insel, mit Staub beseelt, ein Skelett aus Erde. Unter Primo de Rivera und Franco wurden zahlreiche Verbrecher hierhin verbannt.

Vor einer Dekade hatte ich noch Angst vor der Leere auf Fuerteventura, habe versucht, sie zu füllen. Mit Gesprächen, mit den Zeilen meiner Bücher, mit den Tönen der Musik in meinen Ohren.
Heute ist das anders: Leere ist ein Geburtshelfer von Gedanken.
Leerer Kopf.
Leeres Blatt mit Platz für Neues.
Und dann wird’s spannend. Dann kommen Dinge, die man sonst nicht hört. Die im Rauschen verschwinden…

Leere und daraus die Geburt neuer Gedanken und Ideen – darauf und auf die daraus entspringende Einsichten freuen wir uns schon jetzt! Vielen Dank für deine Antworten und die Inspiration durch deine Erfahrungen und Geschichten.

Liebend gerne.

 

Von der Reise berichtet André Schumacher seit Januar 2014 in einer neuen Film- und Fotoshow – und schon jetzt auf seiner Webseite: www.poletopole.de/kanaren.