Vor ein paar Jahren habe ich ein großes Familienfest organisiert – mit Onkels, Tanten, Eltern und auch den „schwarzen Schafen“ der Familie. Im Zuge der Ahnenforschung bin ich auf einen großen Kreis von Menschen gestoßen, der in irgendeiner Weise mit mir verbunden und verwandt ist.

So trocken und langweilig sich das Wort „Ahnenforschung“ anhört – es ist hochspannend, welche Dynamik sich durch das Interesse an anderen Menschen und ihrer Geschichte entwickeln kann und wie die Wege der anderen mit den eigenen häufig verbunden sind.

Doch unabhängig davon, ob Ihre Onkels, Tanten oder Großeltern noch leben und in der Lage sind, über ihre Lebensgeschichte zu erzählen: Kennen Sie Ihre Eltern? (vorausgesetzt, sie leben noch)

Kennen und kennen lernen

Das mag eine seltsame Frage sein, die ich Ihnen stelle, aber denken Sie bitte für einen Moment darüber nach.

Jeder von uns hat diese (Sturm-und-Drang)Phase erlebt: Man möchte eigene Entscheidungen treffen und sich von seinen „Alten“e absetzen, auf eigenen Beinen stehen, gerne alleine auf’s Gesicht fallen und schmerzhafte Erfahrungen machen, um später alleine wieder aufzustehen und davon zehren zu können.

Manche unter uns sind längst in der frühen Jugend flügge, andere brauchen ihr ganzes Leben, um „aus dem Haus“ zu kommen. Und wiederum andere haben diesen Drang schlichtweg nicht.

Je nachdem, in welches Land man kommt, haben Eltern unterschiedliche Bedeutungen, bekommen sie unterschiedlich viel Respekt gezollt und werden unterschiedlich stark mit eingebunden in das Leben ihrer Zöglinge.

In Deutschland scheint mir die überwiegende Zahl von Menschen eine Unabhängigkeit von ihren Eltern anzustreben und das in der Pubertät das erste Mal auszuprobieren.

Wenn dieser vielfach anstrengende Schritt von der Abhängigkeit zur (relativen) Unabhängigkeit gegangen ist, führen die meisten Menschen ein Leben, in dem (zumindest in den meisten Familien Deutschlands) die Eltern keine augenscheinlich gewichtige Rolle mehr spielen.

Sie sind alsdann Anlaufstelle bei Feiertagen, vielleicht ab und an glückliche Babysitter und Ratgebende aus Gewohnheit. Man glaubt, ihre Gewohnheiten, Macken und Manieren zu kennen, weiß zahlreiche Geschichten über sie zu erzählen und kann in vielen Fällen bereits prophezeien, welche sie selbst über sich erzählen werden.

Nur manchmal, manchmal werden wir überrascht von denen, die uns groß gezogen haben. Und uns wird bewusst, wie wenig wir von unseren Eltern wissen.

Verständnis über die Eltern heißt: sich selbst besser verstehen

Ich plädiere an dieser Stelle nicht für einen Kulturwandel, denn dazu ist das Verhältnis jedes Einzelnen zu seinen Eltern zu unterschiedlich.

Was ich aber hinterfragen möchte, sind die Gründe, warum viele von uns ihre Erzeuger:innen nicht genau kennenlernen wollen (es ist ja eine Wahl), denn letztendlich können wir aus dem Verhalten unserer „Alten“ nicht nur ersehen, woher wir viele Verhaltensweisen zeigen oder warum wir die Eltern sind, die wir sind.

Was hält uns also davon ab, zu unseren Eltern zu gehen und mit ihnen über ihr Innerstes zu sprechen?

Hier sind 10 Gründe, die uns hindern, auch uns selbst besser kennen zu lernen:

1. Angst vor dummen Gemeinsamkeiten

Angst, Gemeinsamkeiten bei sich und seinen Eltern zu entdecken (und die sind da), weil dadurch das Gefühl von Unabhängigkeit zerstört werden könnte, ist ein gewichtiger Punkt.

Ebenso laut zu werden, wie es damals der Vater am Tisch andauernd wurde, den Hang zum altmodischen Kleiderstil von der Mutter übernommen zu haben (die man dafür kritisiert hatte), Intoleranz gegenüber den eigenen Kindern, die gleichfalls ihre Sturm-und-Drang-Phasen haben – der Satz „Du bist schon genauso wie deine Mutter“ trifft und führt meist nicht zu einer Verhaltensänderung, sondern zu einer berstenden Auseinandersetzung mit der Person, die diesen Satz ausgesprochen hat.

Bei welchen Eigenschaften oder Verhaltensweisen sind Sie stolz, sie von Ihren Eltern übernommen zu haben? Welche stoßen Sie so weit wie möglich von sich?

2. Angst vor fehlender Unabhängigkeit

Sein „eigenes“ Leben zu leben und nicht das der Vorfahren hört sich unabhängig an, erwachsen und gar nicht spießig. Fakt ist: man kann nie alles anders machen als die eigenen Eltern, weil wir als Kinder durch deren Vorbildfunktion viel beigebracht bekamen, was nunmehr als teilweise tiefes Programm in uns verankert ist.

Das kommt aus Urzeiten und ist mit evolutionstechnischen Hintergründen bestückt. Früher waren es die berüchtigten Säbelzahntiger, die ein Kind nicht streicheln sollte, heute ist es die rote Ampel, das steile Kliff, die dunkle Gasse.

Für Heranwachsende ist die Abhängigkeit vom Urteil der Eltern oft überlebenswichtig. Bis das eigene Urteil gefällt, das eigene Risiko abgeschätzt, das eigene Überleben gesichert werden kann.

Was ist Unabhängigkeit? Womit nehmen Eltern Unabhängigkeit und warum?

3. Stolz – been there, done that

Zu akzeptieren, dass die direkten Vorfahren ebenso Vieles erlebt und gelernt haben, das wir noch lernen müssen, ist – je nach Respekt, den Sie Ihnen gegenüber aufbringen – keine einfache Aufgabe.

Gerade erfolgreiche Eltern haben viel erreicht und üben damit oft bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt Druck auf die eigenen Kinder aus.

Der Drang, mindestens einen Elternteil stolz zu machen auf das, was man geschafft hat, ist ein großer. Und die Möglichkeiten, das zu erreichen, schwinden subjektiv, je größer der Erfahrungsschatz der Eltern ist. Eltern wissen es ja sowieso immer besser, richtig…?

Aber nicht alleine der Wunsch nach dem Stolz der Eltern, sondern ferner der eigene Stolz kann davon abhalten, sich seinen Eltern zu nähern.

Was hat Ihre Eltern stolz gemacht, bei dem Sie es nie geglaubt hätten? An welcher Stelle brechen Sie sich einen Zacken aus der Krone?

4. Freiheitsentzug – Angst, den freien Willen zu verlieren

Noch etwas differenzierter als die Angst vor fehlender Unabhängigkeit ist meiner Meinung nach die Befürchtung, die Dinge ausschließlich zu tun, weil wir sie von unseren Eltern gesagt bekommen. Als Kind ist es bereits schwer, sich Vieles sagen zu lassen. Als Erwachsender ist es häufig gefühlt schon ein Affront.

Ein Beispiel: Wir Kinder hatten jeder seine Aufgabe im Haushalt. Für mich war es das wöchentliche Saugen. Ich mochte die Arbeit, denn gerade durch das Knistern von Krümeln im Staubsauger konnte ich sogar hören, dass ich einen sauberen Unterschied machte. Ich freute mich auf die Arbeit und wusste, dass ich meiner Mutter damit eine Freude machte.

Aber wehe, sie kam mir zuvor und bat mich, heute zu saugen, weil es schon wieder schlimm aussähe.

Das war das Aus der Lust auf’s Saugen.
Meine Vorfreude war weg, das Saugen nur noch eine Aufgabe und keine Gelegenheit mehr, jemandem eine proaktive Freude zu machen.

Das einzig Proaktive, das mir noch blieb war, nicht zu saugen.

Was war geschehen? Ich hatte möglicherweise das Gefühl, kontrolliert zu werden oder an etwas erinnert, an das ich nicht erinnert werden musste (Vertrauen). Ich hatte das Gefühl, die Arbeit war nach Ansage nicht mehr als noch halb so viel wert wie „freiwillig“.

Was macht den freien Willen unfrei? Welche Entscheidungen können wir alleine treffen, welche nicht?

5. Fehlender Respekt – anders ist nicht gleich schlechter

Natürlich sind unsere Eltern in anderen Zeiten aufgewachsen. In meinem letzten Artikel Wachstum… wenn man sich traut schrieb ich über das Heiraten und die damit verbundenen Entscheidungen. Was gab es damals für Entscheidungen zu treffen? Ort, Gästeliste und Geschenke waren durch das oft knappe Geld beschränkt (auf zu Hause, Familie und keine). Nur sechs Prozent aller Paare entscheiden sich für den Namen der Frau, die Frau zog Kinder und meistens auch noch Gemüse im eigenen Garten groß. Damals…

„Andere Erfahrungen“ heißt dabei nicht, dass die Eltern nicht mehr entscheiden können, was gut und was schlecht ist. Oft fehlt bloß der Kontext oder der Hintergrund für eigene Entscheidungen, damit sie verstehen, warum es heute anders ist als „damals“.

Ein „Ihr versteht das nicht!“ oder „Dazu seid ihr zu alt!“ der Kinder ist dabei ebenso kontraproduktiv für das bessere Verständnis seiner Eltern wie das Auferlegen alter und damals nachvollziehbarer Werte der Eltern auf die Kinder.

Viele geniale Menschen haben vor hunderten von Jahren bereits Dinge geschrieben, die auch heute noch gültig sind und wiederentdeckt werden. Dazu widerlegen neue Denker heutzutage altes Wissen und tragen neues in die Welt.

Für was respektieren Sie Ihre Eltern? Für was fordern Sie Respekt von ihnen?

Haben Sie sich in einem der Gründe vielleicht schon wiedergefunden? Es gibt fünf weitere, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Im zweiten Teil von Was uns davon abhält, unsere Eltern besser kennen zu lernen.

Bis dahin bin ich auf Ihr Kommentar gespannt! Was ist bei Ihnen der Grund, warum Sie Ihre Eltern nicht besser kennen lernen? Und welche Art von Eltern würden Sie gerne sein?