In einigen Situationen ist es hilfreich, Abstand zu gewinnen, ein wenig psychologische Distanz. Von der Situation selbst, von sich und seinen Gedanken, von dem Gegenüber, der einen möglicherweise unter Stress setzt. In Raus aus der Versteinerung: Die Stimme aus dem Off habe ich unlängst eine Methode beschrieben, die nicht nur JD von Scrubs beisteht, Dinge aus der Ferne zu betrachten.

Heute stelle ich Ihnen wissenschaftlich erforschte Effekte dieses Tricks vor und möchte Sie ermuntern, ab und zu „aus Ihrer Haut zu fahren“ und die Meta-Perspektive einzunehmen. Und zwar nicht nur, wenn Sie einer Ihrer Kollegen dumm von der Seite anmacht.

Was ist psychologische Distanz?

Die psychologische Distanz ist ein mächtiges Werkzeug, das uns hilft, objektivere und weniger emotional geladene Entscheidungen zu treffen.

Der Effekt der psychologischen Distanz auf die Überzeugungskraft von Argumenten und Gründen bei noch nicht abgeschlossenen Entscheidungen ist ein faszinierendes Forschungsthema, das wichtige Einblicke in unser menschliches Entscheidungsverhalten bietet. Psychologische Distanz bezieht sich primä auf die Wahrnehmung von Ereignissen, Objekten oder Personen in Bezug auf ihre zeitliche, räumliche, soziale oder hypothetische Entfernung.

Indem wir uns vorstellen, dass eine andere Person in unserer Situation ist, können wir uns von unseren eigenen Emotionen und Voreingenommenheiten distanzieren und einen klareren Blick auf die Situation werfen. Dies ermöglicht es uns, klügere Fragen zu stellen und anderen (und auch uns selber!) nützlichere Ratschläge zu geben, als wenn wir versuchen würden, direkt mit der Situation umzugehen.

Es ist, als ob wir einen Schritt zurücktreten und die Situation aus der Vogelperspektive betrachten würden, was uns eine breitere Perspektive und einen klareren Kopf gibt.

Eine Studie von Trope und Liberman (2010) erklärt, wie psychologische Distanz funktioniert und wie sie unsere Denk- und Entscheidungsprozesse beeinflusst: Die Autor:innen argumentieren, dass psychologische Distanz uns hilft, abstrakter zu denken und uns auf das große Ganze zu konzentrieren, anstatt uns in den Details zu verlieren.

Aber das ist noch nicht alles…

Welche Vorteile bietet psychologische Distanz?

1. Herausfordernde Aufgaben einfacher erscheinen lassen

Im Alltag begegnen wir ständig Aufgaben, die uns extrem schwierig erscheinen. Sie können von komplexen beruflichen Projekten bis hin zu persönlichen Herausforderungen reichen, wie dem Lernen einer neuen Fähigkeit oder dem Umgang mit einer schwierigen Beziehung. In solchen Momenten kann die Anwendung der psychologischen Distanz einen erheblichen Unterschied machen.

Thomas und Tsai (2011) fanden heraus in ihrer Studie zwei Dinge heraus:

a) das Aktivieren einer abstrakten Denkweise reduziert das Gefühl der Schwierigkeit einer Aufgabe.

Die psychologische Distanz ermöglicht es uns, eine Aufgabe als weniger einschüchternd und überwältigend wahrzunehmen, indem wir sie aus einer entfernteren, abstrakteren Perspektive betrachten. Anstatt uns auf die unmittelbaren Schwierigkeiten und Details der Aufgabe zu konzentrieren, können wir uns auf das größere Bild konzentrieren und die Aufgabe in einem breiteren Kontext sehen.

Beispiel: Ein praktischer Weg, wie Sie psychologische könnte die Planung eines großen Events sein, wie einer Hochzeit oder einer Konferenz. Diese Aufgabe kann zunächst überwältigend erscheinen, mit so vielen Details, die berücksichtigt werden müssen. Aber wenn Sie sich in Ihrem Stuhl zurücklehnen und die Aufgabe aus einer abstrakteren Perspektive betrachten, könnten Sie beginnen, die Aufgabe als eine Reihe von kleineren, handhabbaren Schritten zu sehen, anstatt als ein großes, unüberschaubares Projekt.

b) Teilnehmer ihrer Studie fanden die Aufgabe ebenso leichter, wenn sie sich körperlich von der Aufgabe entfernten, indem sie sich in ihrem Stuhl zurück lehnten. Es ist eine einfache und effektive Strategie, die jeder in seinem täglichen Leben anwenden kann, um Herausforderungen besser zu bewältigen und produktiver zu sein.

2. Überzeugungskraft gewinnen

Nenkov konnte in zwei Studien zeigen, dass Verbraucher sich eher bei einer noch nicht abgeschlossenen Entscheidung von Gründen oder Argumenten überzeugen ließen, die eine psychisch ferne Orientierung hatten, also die Zukunft betonten oder einen entfernten Anderen einbezogen (Nenkov, 2012).

In seiner Studie wurde festgestellt, dass Verbraucher eher dazu neigen, sich von Gründen oder Argumenten überzeugen zu lassen, die eine psychologisch ferne Orientierung betonen. Das bedeutet, dass Argumente, die die Zukunft betreffen oder einen entfernten Anderen einbeziehen, eine größere Überzeugungskraft haben. Dieser Effekt der psychologischen Distanz kann auf verschiedene Weisen erklärt werden:

  1. Erstens kann die Betonung der Zukunft oder eines entfernten Anderen dazu beitragen, dass Menschen eine größere Distanz zu einer Entscheidung wahrnehmen, was wiederum zu einer abstrakteren und weniger emotionalen Betrachtung des Themas führen kann. Dies kann dazu führen, dass Menschen offener für rationale Argumente und Gründe sind, da sie weniger von unmittelbaren Emotionen beeinflusst werden.
  2. Zweitens kann die psychologische Distanz auch die Wahrnehmung von Risiko und Unsicherheit beeinflussen. Wenn eine Entscheidung als weiter entfernt wahrgenommen wird, könnten Menschen eher bereit sein, größere Risiken einzugehen oder sich von Argumenten überzeugen zu lassen, die langfristige Vorteile betonen, da die unmittelbaren Konsequenzen weniger präsent erscheinen.
  3. Drittens könnte die Einbeziehung eines entfernten Anderen in die Argumentation dazu beitragen, dass Menschen ihre Perspektive erweitern und die Entscheidung aus einer breiteren sozialen oder moralischen Sicht betrachten. Dies könnte dazu führen, dass sie eher bereit sind, sich von Argumenten überzeugen zu lassen, die das Gemeinwohl oder langfristige Auswirkungen betonen.

3. Mehr emotionale Selbstkontrolle erlangen

Wenn Sie das belastende Gefühl haben, emotional häufig mitgerissen zu werden, kann Ihnen psychologische Distanz zu mehr emotionaler Distanz verhelfen.

Joshua Davis und seine Kollegen fanden heraus, dass Probanden negative Szenen tendenziell weniger negativ empfanden und weniger emotional erregt waren, wenn sie sich vorstellten, weiter entfernt zu sein. Entgegen dessen war die emotionale Belastung stärker, wenn sie sich gedanklich zum Beobachter bewegten. (Davis et al., 2011)

Eine Studie von Wang und seinen Kollegen zeigte ergänzend, dass das Zusammenspiel von Gefühlen und Gedanken vorteilhaft genutzt werden kann. Menschen, die z.B. die Tendenz haben, sich emotional von ihren Erfahrungen zu distanzieren, ziehen einen Gewinn aus dem psychologischen Eintauchen in eine Situation (Wang et al., 2012).

Dahingegen können Personen mit einer hohen ängstlichen Anlage, die gewohnheitsmäßig stark emotional in ihre Erfahrungen „eintauchen“ (z.B. in Filme, die sie sich anschauen), von einer psychischen Distanzierung profitieren (im Sinne von „das ist doch nur ein Film“).

4. Sich selbst treu zu bleiben

Ich kann nur für mich sprechen, aber verfalle regelmäßig dem Glauben, einer der wenigen zu sein, die nicht außerordentlich beeinflussbar sind. Ich denke weiterhin, meine Entscheidungen fußen auf relativ stabilen Einstellungen, die aus mir selbst kommen.

Nicht aus anderen Menschen.
Und schon gar nicht aus der Werbung.

Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?
–-Hermann Hesse, Demian

Blicke ich zurück, erkenne ich einerseits, dass es viele Situationen gab, in denen ich mich aufgrund meiner Kernwerte entschieden hatte. Oft genug war das jedoch nicht der Fall. Mich hatte vielmehr der jeweilige Kontext zu einer anderen Entscheidung verführt. Meine eigene Einstellung hatte sich nicht durchgesetzt.

Sie kennen das Phänomen möglicherweise auch, sich ohne großes Nachdenken über die eigenen Werte der Meinung einer Mehrheit anzuschließen. Solche Entscheidungen haben keinen Anspruch auf Güte oder Richtigkeit. Wir gehen oft intuitiv davon aus, dass „so viele Menschen schon nicht daneben liegen können“.

Psychologische Distanz kann uns weniger anfällig für sozialen Einfluss machen.

Obwohl Menschen sich häufig zur Kooperation oder zur Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Meinung hingezogen fühlen, ist der Blick auf die möglicherweise in der aktuellen Situation eigenen fernen Werte und Ziele ein essentieller (Ledgerwood et al., 2010), um eine anstehende Entscheidung anderer als hilfreich oder nicht hilfreich einzustufen und sich dann gleich geartet oder konträr zu entscheiden.

5. Ihre Kreativität anheizen

Michael Tomoff - Was Wäre Wenn - Kreativität durch psychologische Distanz

Eine häufig genannte Methode für mehr Kreativität ist das Einlegen einer Pause, um von einer Aufgabe Abstand zu gewinnen. Auch hier kann psychische Distanz hilfreich sein, wie Jia und seine Kollegen herausfanden:

65 Studenten der Indiana University sollten sich in einem Experiment den Ursprung der Aufgabe als entweder von der eigenen Universität entwickelt (nah) beziehungsweise aus Griechenland stammend (weit entfernt) vorstellen.

Die Studenten aus der Griechenland-Gruppe lösten doppelt so viele Probleme wie die erste Gruppe (Jia et al., 2009).

Das einzig Gefährliche am Fliegen ist die Erde.
–Wilbur Wright

Sind Sie möglicherweise gerade bei der Arbeit, wenn Sie diesen Text lesen? Für den Fall, dass Sie sich mal wieder über etwas ärgern – zoomen Sie heraus und nehmen Sie die Flugzeugperspektive ein. Wie wichtig ist es jetzt noch?

Manchmal hilft es, aus seinem Kontext wortwörtlich „hinauszugehen“, um sich wieder einen Überblick zu verschaffen über die eigenen Werte, die eigene Situation, seine Ziele oder die daran geknüpften Aufgaben.

In welchen Situationen hilft Ihnen der Effekt der psychologischen Distanz?

 

Foto: DALL-E 2

Literatur

Davis, J. I., Gross, J. J., & Ochsner, K. N. (2011). Psychological distance and emotional experience: what you see is what you get. Emotion (Washington, D.C.), 11(2), 438–44.

Jia, L., Hirt, E. R., & Karpen, S. C. (2009). Lessons from a Faraway land: The effect of spatial distance on creative cognition. Journal of Experimental Social Psychology, 45(5), 1127–1131.

Ledgerwood, A., Trope, Y., & Chaiken, S. (2010). Flexibility now, consistency later: psychological distance and construal shape evaluative responding. Journal of personality and social psychology, 99(1), 32–51.

Lin, S., & Cheung, S.O. (2022). Exploring the Concept of Psychological Distance and Its Impact on Intention to Settle in Construction Dispute NegotiationJournal of Construction Engineering and Management.

Nenkov, G. (2012). It’s all in the mindset: Effects of varying psychological distance in persuasive messages. Marketing Letters, 23(3), 615–628.

Thomas, M., & Tsai, C. I. (2012). Psychological Distance and Subjective Experience: How Distancing Reduces the Feeling of Difficulty. Journal of Consumer Research, 39(2), 324–340.

Trope, Y., & Liberman, N. (2010). Construal-level theory of psychological distance. Psychological Review, 117(2), 440–463.