Die närrische Zeit hält viele Masken – äußere sowie innere. Als jemand, der nicht mit dem Karneval aufgewachsen ist (wie der durchschnittliche Kölner zum Beispiel), schaue ich jedes Jahr fasziniert auf die Feiernden und freue mich über die Ausgelassenheit, die in solchen Tagen herrscht.

Dieser Artikel beschäftigt sich aus diesem Grunde mit folgenden Punkten, die mit dem Karneval für mich zusammenhängen:

  • Lügen bzw. Wahrheit
  • Zugehörigkeit
  • Authentizität
  • einer wunderbaren Möglichkeit für die nächste „Verkleidung“

Wenn kein Fasching wär‘, wäre mancher immer nur Irgendwer.
–Erhard Horst Bellermann

Welche Seite ist die wahre?

Eine Frage brennt mir jedes Jahr unter den Nägeln: Verkleiden sich die Menschen während dieser Zeit oder leben sie genau diese Seite von sich, die sonst zu kurz kommt?

Natürlich wird der gemeine Pirat nicht im „wahren“ Leben als Pirat durch die Straßen ziehen. Aber was ist mit den Werten und Möglichkeiten des Piraten? Mut, Abenteuerlust, Verschrobenheit.

Natürlich wird die Dame aus dem horizontalen Gewerbe nicht auch in Wirklichkeit feist geschminkt durch’s Büro wackeln und ihre Kollegen anturteln.

Was ist aber mit dem Verlangen, als Frau wahrgenommen und begehrt zu werden? Oder angesprochen, ohne dabei – wie man es von einer Frau fast erwartet – mit erhobener Augenbraue ein abschätziges „Pf!“ von sich geben zu „müssen“, nachdem ihr hinterhergepfiffen wurde?

Belügen wir uns selbst für Zugehörigkeit?

In meinem Artikel Wie man glaubwürdig wird wie der Dalai Lama habe ich darüber geschrieben, was Authentizität ist und warum es so wertvoll sein kann, bei sich zu finden und auszuleben. Authentizität hat meiner Meinung nach viel mit Wahrheit zu tun – so zu sein, wie man behauptet und nur das zu behaupten, was und wie man ist.

Während der Karnevalszeit ist man ja absichtlich nicht, wer oder was man sonst ist. Ein Aspekt fällt mir gerade in Karnevalszeiten auf: der Alkohol. Er fließt und fördert. Und auch bezüglich des Alkohols lässt sich die Frage stellen:

Sind wir betrunken näher an unserem Selbst, weil wir soziale Normen und Schranken fallen lassen, die sonst unserem Leben Grenzen setzen? Oder gehen wir über uns hinaus und legen Dinge frei, zu denen wir ohne den Alkohol nicht fähig wären?

Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, das Verkleiden und der Identitätswechsel während des Karnevals hätten mit Selbstbetrug zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Ich denke, wir kommen mit jeder Verkleidung wieder ein Stück näher heran an den Kern. An das, was uns wirklich beschäftigt.

Heißt das im Gegenschluss, wir belügen uns ohne Verkleidung während des restlichen Jahres?

Richard Feldmann ist Professor der Psychologie am Massachusetts und Experte für das Lügen. Er hat herausgefunden, dass Menschen beim Kennenlernen ca. drei Mal alle 10 Minuten lügen (=18x pro Stunde!).

Belügen wir andere für mehr Zugehörigkeit?

Lügen ist ein fundamentaler Bestandteil unseres Lebens, den wir früh zu lernen scheinen. Weil es sympathisch macht und es uns im Leben voran bringt.
Weil es sich gut anfühlt, nicht erwischt zu werden.

Lügen helfen uns zudem zu vermeiden, dass wir mit unserem wirklichen Selbst in Kontakt treten und uns erlauben, der Mensch zu sein, der wir sind:

Unvollkommen und voll von Makeln.

Das aber zu akzeptieren und sich und anderen einzugestehen, kann eine befreiende Maßnahme sein. So kann der Karneval dabei helfen, sich zu finden und Dinge zu entdecken, die vorher unsichtbar schienen.

Ich werfe Ihnen einmal folgende These vor die Augen: Die Karnevalszeit ist eine Zeit, in der es um Zugehörigkeit geht.

Nicht nur zwischen den Kulturen (wie Kerstin Freis Buch Wer sich maskiert, wird integriertir?t=wawawe0f 21&l=as2&o=3&a=3899300084 für den Berliner Karneval der Kulturen aufklärt), sondern auch innerhalb einer Kultur, die die vielfältigsten Gruppen inne, für deren Individuen (also uns) diese spezielle Zeit des Jahres eine Gelegenheit ist, Anschluss zu finden.
Manchmal auch mehr als man in nüchternem Zustand vielleicht gesucht hätte. Aber für diese Art von Sünden kann man im Rheinland praktischerweise auf das Verbrennen des Nubbels zurückgreifen…

Lügen und gut gemeinte Täuschungen (und dazu zähle ich die Verkleidung) helfen dabei, diesen Anschluss zu knüpfen, sympathisch zu wirken, sich auf eine Art anzupassen, dazu zu gehören.

Verkleidung als Schritt zur Entdeckung von Bedürfnissen

The secrets we hide have a devastating impact on our live.
–Bruce Muzik

Wenn wir Geheimnisse verbergen – und damit meine ich ebenfalls die Geheimnisse, die wir vor uns selbst verbergen – präsentieren wir uns der Welt als jemand, der wir nicht sind. Das kann bei anderen zu mehr Zugehörigkeit führen (wie das z.B. das Lästern hinter dem Rücken Dritter auch kurzfristig vermag), fühlt sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht langfristig gut an.

Verbergen wir lange genug, verlieren wir den Kontakt zu unserem eigentlichen Selbst. Das kann sich anfühlen, als stünden wir neben uns. Als lebten wir das Leben eines anderen. Als fehlte uns die Wurzel, von der wir unsere Energie bekommen, unsere „Nahrung“.

Obwohl ich größteneils ohne Karneval aufgewachsen bin (und deshalb so viele naive Fragen stellen kann ;-), fühle ich mich mehr und mehr zu dem hingezogen, was der Karneval für mich verkörpert: Kreativität, Ausgelassenheit, Humor und – als mögliche Folge von alledem – auch Authentizität.

Und diese Authentizität können Sie meiner Meinung nach hervorragend im Karneval in sich entdecken, sowie aus- und vor allem erleben. Ich beginne dabei mit Ihrer Verkleidung:

Ich nehme an, dass Sie sich eine Verkleidung für Karneval ausgedacht haben oder noch ausdenken. Überlegen Sie sich einmal, was Sie zu der Verkleidung führt, was Sie daran reizt, was Sie sich davon erhoffen.

  • Gibt es etwas, das Sie schon immer sein wollten und an das Sie diese Verkleidung näher heran bringt?
    Gibt es jemanden, dem Sie dadurch ähnlicher sind (und ich meine damit nicht unbedingt Captain Hook)?
  • Falls Sie sich nicht verkleiden – was wäre es am ehesten, das Sie verkörpern wollten, wenn Sie zum Karneval gingen?

Wir sind so sehr damit beschäftigt, alles Mögliche zu machen, um äußere Werte zu erreichen, dass wir darüber den inneren Wert vergessen: Die Lust, lebendig zu sein! Darum geht es.
–Joseph Campbell

Die verrückte Idee: Verkleiden als das, was Sie wirklich werden wollen!

Ich möchte diesen Beitrag schließen mit einer für mich extrem spannenden Studie, die Ihnen helfen kann, die Verkleidung zu finden, die nicht nur Ihren nächsten Karneval bestimmen könnte.

1979 kreierte die Harvard Psychologie Professorin Ellen Langer ein einwöchiges Experiment mit einer Gruppe 75-jähriger Männer (Langer, 2009). Die Männer wussten wenig über die Natur des Experiments. Ihre einzige Information war, dass sie für eine Woche in ein „Retreat-Zentrum“ gehen würden und nur Fotos, Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher mitnehmen durften, die vor 1959 erschienen waren.

Als sie ankamen, wurde den Männern gesagt, dass für die nächste Woche nichts weiter machen müssten als so zu tun, als wäre es 1959 – eine Zeit also, als diese 75-jährigen Männer 55 Jahre alt waren.

Um dieses Szenario zu verstärken, sollten sie sich kleiden und verhalten wie sie sich zu dieser Zeit gekleidet und verhalten hatten. Sie wurden dazu mit Ausweisen ausgestattet, die Fotos von ihnen aus der Mitte der 50er Jahre enthielten. Im Laufe der Woche wurden sie instruiert, über Präsident Eisenhower und andere zu dieser Zeit aktuelle Ereignisse in ihrem Leben zu diskutieren.

Einige der Teilnehmer sprachen im Präsens über ihre damaligen Jobs, als wären sie nie in Rente gegangen. Zeitungen wie Life und die Saturday Evening Post lagen aus und zeigten Themen aus dem Jahr 1959.

Kurz gesagt, alles wurde so konzipiert, dass die 75-jährigen Männer die Welt wieder durch die Brille ihres 55-jährigen Selbst sehen konnten.

Langer wollte beweisen, dass unsere „mentale Konstruktion“ von unserer Realität direkten Einfluss hat auf unseren physischen Alterungsprozess. Sie wollte mit dieser provokanten Hypothese zeigen, dass man durch das Verschieben des Dreh-und Angelpunkts der Männer auch ihre „objektive“ Realität ändern konnte – nämlich die ihres Alters.

Und genau das passierte.

Vor dem Einzug in das Zentrum wurden die Männer auf jeden der Aspekte getestet, die sich über das Alter üblicherweise verschlechterten: Körperkraft und -haltung, Wahrnehmungsfähigkeit, Kognition (im Sinne der Informationsverarbeitung) und das Kurzzeitgedächtnis.

Das Erstaunliche: Nach Rückkehr aus dem Zentrum hatten die meisten der Männer in jeder Kategorie bessere Ergebnisse. Sie waren wesentlich flexibler, hatten eine bessere Körperhaltung und mehr Kraft in den Händen (siehe hierzu auch das Experiment aus Bodybuilding durch Mentaltraining?). Sogar ihre Sehkraft war durchschnittlich um fast 10 Prozent gestiegen, sowie auch ihre Leistung bei Gedächtnistests. Über die Hälfte der Männer erreichte eine Steigerung der Intelligenz – eine lange Zeit als ab dem Jugendalter fixe Einheit gesehen.

Aber es geht noch weiter: Zeigte man zufälligen fremden Personen Fotos der Teilnehmer, die vor und dem Experiment aufgenommen wurden, schätzten sie die Personen auf den nachher-Bildern durchschnittlich um drei Jahre jünger ein als sie bei ihrer Ankunft aussahen.

Eine dramatisch neue Erkenntnis und ein Schlag ins Gesicht des Psychologiewissens aus dieser Zeit über Alterungsprozesse. Und, wie Sie sich vorstellen können, radikal neue Folgen für die Macht der Gedanken, die Wirklichkeit zu gestalten.

Was heißt das für die Möglichkeiten beim Karneval?

Die Was-Wäre-Wenn-Übung der 75-Jährigen beweist einmal mehr die eindrucksvolle Fähigkeit unseres Gehirns, nicht nur interne Prozesse wie Einstellungen und Gewohnheiten zu ändern, sondern sogar äußere, physische Umstände.

Insofern ist es möglicherweise wichtiger als Sie denken, welchem Kostüm Sie dieses Mal den Vorrang geben und in welcher Rolle Sie aufgehen…

Foto: Natura Pagana bei flickr

Literatur

Frei, K. (2003). Wer sich maskiert, wird integriertir?t=wawawe0f 21&l=as2&o=3&a=3899300084Wer sich maskiert, wird integriert: der Karneval der Kulturen in Berlin. Berlin: H. Schiler.

Langer, E. (2009). Counterclockwise: Mindful Health and the Power of Possibility. New York: Ballantine.